Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
ungefähr fünf Meter von ihm entfernt, und während er wach liegt und in die Finsternis starrt, sagt er sich wieder, dass Liebe nicht sein muss. Liebe ist eine Möglichkeit unter vielen und absolut nicht zwingend. Leider hilft der Gedanke keineswegs beim Einschlafen, außerdem hat sich ein Falter ins Zelt verirrt, dessen Flügel an der Nylonwand rattern. Dazu der hohe Violinenton einer Mücke, anschwellend, abschwellend. Musil zu lesen erübrigt sich, wie sich Lesen ohne Licht im Allgemeinen erübrigt. Wieder denkt er, dass er Campingplätze hasst, ihr gesamtesZur-Schau-Stellen des Praktischen, das nur dazu da ist, ihm selbst die eigene Lebensuntüchtigkeit vor Augen zu führen, aber in Wirklichkeit ist das Leben nicht praktisch, sagt er sich, während er den Reißverschluss aufzieht und in die Nacht taucht, das Leben ist kompliziert, schwierig und überaus unpraktisch.
Da er keine praktischen Badelatschen besitzt, geht er barfuß über den steinigen, von Baumwurzeln durchpflügten Rasen, stolpert über eine Zeltschnur, einen Hering, schlägt sich fluchend die Zehen an. Er setzt sich ans Ufer. Sternenlicht treibt im Wasser. Der Himmel ist hoch, eine bleischwarze Kuppel mit pulsierenden Lichtschlieren, die Milchstraße, der Große Wagen, Kassiopeia, mehr erkennt er nicht am Himmel, mehr weiß er nicht am Himmel, und wozu auch. Den Großen Wagen wird es wenig kümmern, ob er Großer Wagen heißt oder nicht. Dann nähern sich Schritte, ein Rascheln, und Betty liegt neben ihm. Wind rauscht in den Ästen, ein Glucksen des Sees. Schweigen. Zu viel Schweigen vergeht, die Stille gewinnt, breitet sich zwischen ihren Körpern aus, wickelt sie ein, er hört sie atmen.
Als er Luft holt, um anzukündigen, dass er unbedingt ins Bett muss, weil müde, weil total fertig, weil die Augen fallen ihm zu, er ist sozusagen stehend k. o., hundemüde, legt sie den kleinen Finger ihrer Hand auf seinen. Ungefähr zwei Quadratzentimeter ihrer Haut berühren sich. Wie bedeutend zwei Quadratzentimeter sein können. Er sieht sie nicht an, kann sich aber vorstellen, wie sie aussehen muss im Sternenlicht, also schaut er lieber nicht, schaut ins Universum, das sich vermutlich im See im Spiegel betrachtet.
Irgendwann muss sie aufgestanden sein, denn er hört ihre Schritte, das Schnappen ihrer Flip-Flops, die sich schnell entfernen, hört den Reißverschluss des Zeltes, dann nichts mehr.Stille, aber eine Sternschnuppe, die krachend ins Wasser stürzt, und sein Wunsch, der elektrisch im Himmel steht, für einen Augenblick, irrational und ein Gefühl eher als eine Formulierung, leider absolut unrealisierbar.
An Schlaf ist ohnehin nicht zu denken, also beschließt er, Bier oder Wein zu kaufen. Er läuft an den Zelten vorbei, aus denen vereinzeltes Schnarchen dringt, aber natürlich gibt es keinen Wein, auch kein Bier, denn der Kiosk ist geschlossen, denn man schläft um diese Uhrzeit, was praktischer ist, also geht er zurück, vorbei am Toilettentrakt, den Waschräumen, und auf dem Betonplattenweg, der von einer von Insekten umtanzten Neonleuchte weiß erhellt ist, steht Betty im Schlaf-T-Shirt, ein Löwengesicht auf der Brust, ihre Toilettentasche im Arm.
»Nacht«, sagt sie, Blick auf seine Füße. Sie will an ihm vorbei, er will an ihr vorbei, aber beide wählen dieselbe Richtung. Ihre Oberkörper zucken vor Schreck, als sie fast aneinanderstoßen, und er, wie um einen Sturz abzufangen, umarmt sie heftig, hält sie fest, auch sie umklammert ihn, er spürt ihre Fingernägel, dann ihre Fäuste in seinem Rücken, ihr Gesicht an seinem Hals, das sich bewegt, weil sie den Kopf schüttelt. Er lässt sie los, damit sie sich umdrehen und davonlaufen kann, aber sie bleibt stehen, minutenlang, viel zu lang jedenfalls steht sie vor ihm da, mit Löwenkopf und Toilettenbeutel, vom Neonlichtviereck wie von einem Bilderrahmen aus der Nacht gehoben. Also küsst er sie, worauf es schwarz wird, Neonlampen und Sterne schließen ihr Auge. Er küsst sie, Hände an ihrem Hals, an ihren Schultern, und überall. Sie schmeckt nach Zahnpasta, er drückt sie gegen die Betonwand, dass ihr Hinterkopf aufschlägt.
»Entschuldige«, murmelt er und streichelt ihren Kopf, »entschuldige«,küsst sie, seine Hände liegen jetzt auf ihrem Gesicht, aber er hört nicht auf, sie zu küssen, und Bettys Finger tasten nach seinem Mund, seinen Wangen, als wäre sie blind. Sie gehen ein paar Schritte in der Umarmung, taumelnd, dann stemmt sie sich gegen ihn, löst sich von ihm,
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