Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Titel: Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Zeiner
Vom Netzwerk:
immer wieder Betty vor wechselndem Hintergrund, Betty, wie sie ihn anblickt, fragend oder zärtlich oder abweisend. Da war sie längst schon in Italien.
    Das Wort »wenn«, das unmittelbar nach Marcs Tod zunächst sein gesamtes Denken bestimmt hatte, wurde schwächer, verblasste. Das wunderte ihn. Er schien zu akzeptieren, was passiert war. Was geschehen ist, ist geschehen ist geschehen ist geschehen ist.
    Denn es stimmte nicht, nicht bei ihm, dass der Moment des Aufwachens am Morgen, bevor das Bewusstsein den Vorhang aufzog, jene Sekundenfragmente der Leere, bevor die Erinnerung erbarmungslos wie das Licht zurückströmte, einen Raum der Ahnungslosigkeit bot, eine Welt, in der nichts geschehen war, in der Marc lebte und der kommende ein ganz normaler Tag sein könnte. Es stimmte nicht. Nie, nach keinem Schlaf, auch wenn er noch so besoffen, angekleidet ins Bett gefallen war, hatte er es vergessen, nicht für den kleinsten Zeitsplitter. Niemals war das Wissen erst nach dem Erwachen wiedergekommen, sondern es war immer schon da gewesen, saß auf der Bettkante und wartete auf ihn. Das Erstaunliche war, dass man sich daran gewöhnte. Dies erschien ihm lange als der eigentlicheVerrat. Dass man sich an den Tod gewöhnt, wie man sich an die Liebe, an alles gewöhnt.
    Didi und Ulrich riefen öfter an und erkundigten sich nach seinem Befinden. Sie kamen vorbei, brachten Lebensmittel mit und Bier. Manchmal öffnete er, manchmal nicht. Ob er wieder spiele, fragten sie ihn. Er schüttelte den Kopf.
    An ihren Gesichtern merkte er, dass sie sich Sorgen machten. Aber er selbst empfand seinen Zustand nicht als besorgniserregend. Im Gegenteil: Er fühlte sich den anderen einen Schritt voraus. Oft, wenn er nachts schlaflos im Bett lag, wenn sich sein Magen zusammenzog, sein ganzer Körper sich um dieses Schmerzzentrum krümmte, die Knie an sein Kinn stießen und er sich schließlich aufsetzte und an die Zimmerdecke starrte, die ihm ebenso leer und bedeutungslos erschien wie die Decke des Universums, war er erleichtert, dass wenigstens Marc in Sicherheit war.
    Das war seine Strategie: Das Leben als etwas Unerträgliches zu deuten, als ein Übel, dem man besser entkommt. Dann, und nur dann, war auch der Tod zu ertragen. Manchmal gelang es ihm, manchmal nicht.
    Klavier spielte er zum ersten Mal wieder beim Betriebssommerfest eines großen Energieanbieters, anlässlich dessen das neu formierte Diedrich-von-Jagow-Quartett engagiert worden war. Er hatte sich geweigert, zu den Proben zu kommen, hatte darüber hinaus deutlich gemacht, dass er keineswegs an einer Mitarbeit interessiert sei. Er werde nicht mehr Klavier spielen, schon gar nicht eine solche »Kackscheiße«, wie er sich tautologisch-drastisch ausgedrückt hatte.
    Dann spielte er die Kackscheiße aber doch. Zwar hatte er nichtgeprobt, aber Diedrich und Ulli, von denen er bereits mehrere Male dazu befragt worden war, wie er denn gedenke, seinen Lebensunterhalt zukünftig zu bestreiten, waren am Tag der Veranstaltung in seine Wohnung eingedrungen und hatten ihn mehr oder weniger entführt.
    Der Abend war entsetzlich verlaufen. Dennoch weniger entsetzlich als erwartet. Tom war schon vor dem ersten Set so betrunken gewesen, dass er die Tasten nicht mehr einzeln wahrnahm, sondern dass sie vor seinen Augen ineinanderflossen, außerdem heimlich die Plätze tauschten. Die Noten, die man ihm hingestellt hatte, waren kleine schwarze Käfer, die auf dem blendend weißen Papier herumirrten, sprangen und sich vermehrten. Zum Großteil handelte es sich um sogenannte Jazzstandards aus dem »Great American Songbook«, die er ohnehin auswendig kannte.
    Ein riesiger Tanzboden, den man auf den Rasen gelegt hatte, trennte die Bühne von den Stehtischen, die mit weißen Plastiktüchern umwickelt waren. Darauf hatte man Luftschlangen drapiert und Teelichter in Gläsern. Zaubernde Stelzenläufer in Renaissance-Kostümen, die verpflichtet waren, allerbester Laune zu sein, staksten herum und wedelten mit Bändern. Das Publikum, das aufgrund irgendeiner Wichtigkeit dazu verurteilt war, an den Stehtischen zu stehen und Sekt zu trinken, indes es von den Stelzenläufern bewedelt und bezaubert wurde, ließ die Veranstaltung über sich ergehen wie das Schicksal. Die Gesichter hatten sich zu Masken versteift, die Augen stierten durch die Masken hindurch an den Lampions vorbei in die Leere einer für die Jahreszeit zu kühlen, regnerischen Juninacht. Die Münder starr geöffnet, um Häppchen aufzunehmen, wie es

Weitere Kostenlose Bücher