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Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Titel: Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Zeiner
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nachzugehen.
    Carlo Vitelli, den sie in Gedanken immer beim Vor- und beim Zunamen nannte, obwohl man sich eigentlich duzte, bestand nicht nur im OP, sondern auch sonst hauptsächlich aus Augen. Sie taten sich vor Betty Morgenthal auf wie ein Abgrund, was sie aber nicht davon abhielt, an Vitellis Tiefgründigkeit zu zweifeln. Wenn sie einander in einem der Korridore des Poliklinikums begegneten, lächelte sie unverbindlich, fixierte etwas weit Entferntes und zog mit ihrem lautlosen Anästhesistinnengang an ihm vorbei. Sie wusste, seine Liebe würde vergehen. Der Pfeil des Begehrens würde mitten im Flug abstürzen oder noch abgelenkt werden von einer Medizinstudentin aus besserem Hause oder einer ärztesammelnden Schwesternschülerin. Wenn sie etwas gelernt hatte bisher in ihrem Leben, dann zweierlei: Überprüfe immer und unter allen Umständen den Sitz des Beatmungstubus, und – eine Weisheit, die ihr schon die Tübinger Großmutter mitgegeben hatte – : »Kommt’s allein, geht’s allein.«
    Betty Morgenthal hatte auch einen Ehemann.
    Morgens beim Frühstück, wenn sie Alfredo gegenübersaß, der redete und Kaffee eingoss und sich mit der Hand vom rechten zum linken Ohr hin über den Kopf strich, wo er sich nachdenklich kratzte, dann weitersprach, ohne aber weiterzuessen, zurückgelehnt plötzlich, als wäre ihm vor Aufregung der Appetit vergangen, denn er referierte über nichts Geringeres als denkommenden Weltkommunismus, der alle Menschen gleichermaßen zu Dante-Lesern machen würde, und zwar alle, die Putzfrau und auch den Drogenabhängigen, weil es einfach das gute Recht aller Menschen und nicht einiger weniger sei, Dante zu lesen etc., und wenn sie dann lächelnd in ihr Müsli hinabschaute, auf die Rosinen, die Apfelstückchen, die Bananenscheiben in Milch, die sich langsam braun verfärbten, stellte sie sich manchmal vor, wie sie mit ihm, ihrem Ehemann, in dreißig oder vierzig Jahren an diesem Frühstückstisch säße und er spräche über Dante und sie schaute ins Müsli hinab, und dann geschah es, dass sie dieses Bild nicht nur nicht ängstigte, sondern, im Gegenteil, dass sie es in Realität herbeiwünschte, und zwar sofort.
    »Woran denkst du? Betty?«, fragte er dann.
    »An nichts, an uns«, sagte sie.
    Alfredo Sandri, der nicht nur die deutsche Literatur, das deutschsprachige Theater, sondern auch das deutsche Frühstück liebte – »Goethe, Musil, Müsli« –, wie er Betty schon in der Stunde ihres Kennenlernens mit vor der Brust gefalteten Händen eröffnet hatte, Alfredo war, nachdem er wie jeden Tag den Frühstückstisch gedeckt hatte, an einem frühlingswarmen Wintermorgen auf den an die Küche angrenzenden kleinen Balkon hinausgetreten, um auf seine Frau zu warten. Seine Kiefermuskeln arbeiteten, als wären sie daran beteiligt, zähe Gedanken zu zerkauen. Betty, etwas größer als er, trat auf ihn zu, umfasste ihn von hinten und blickte an seiner Wange vorbei auf ein Geschachtel von Dächern alter Palazzi, vielstöckiger beigefarbener Mietshäuser, Antennengeflecht. Nur wenn man sich weit über das Geländer hinauslehnte und den Kopf scharf nach rechts wandte, sah man das fern in der Tiefe wie zähflüssig liegendeMeer. Alfredo beugte sich vor, tat, als fiele er, fielen sie beide vom hohen Balkon, sie lachten. Man sehe hier, sagte er, bereits wieder ernst, von oben auf alles herab, obgleich man nichts sehe. Mit schmalen Augen blickte er gegen das Licht. Ein feiner Strahlenkranz von Falten wies in Richtung Haaransatz, wo schon ein Anflug lag von Grau, das noch nicht zu diesem Gesicht passte, wie für einen Film hineingefärbt wirkte. »Ich mag diese Aussicht nicht. Ich mochte sie nie.«
    »Du wirst dich dran gewöhnen. Die Luft ist besser.« Betty atmete hörbar ein, sah an seiner Wange vorbei über das Meer, das glatte Blau des Himmels.
    »Ma che aria«, sagte Alfredo, dann verhaltener, wie ein Echo: »Che aria.« Er richtete sich auf, sprach weiter, belebter nun, mit wippendem Oberkörper, und erklärte, dass übrigens nichts sich geändert habe, und begann auszuholen zu einem Diskurs über den Zusammenhang des sozialen mit dem geographischen Gefälle in der Stadt, die Armen unten, die Reichen oben, wie seit jeher.
    Betty, die das bereits kannte, ließ ihre Hände an seinem Wollpullover hinabgleiten und ging in die Küche zurück. Hier standen, wie in Flur und Zimmern, noch Umzugskartons herum, die inzwischen als Ablageflächen und Regale fungierten. Schon hatte sich Staub auf ihnen

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