Die Orpheus-Prophezeiung: Thriller (German Edition)
anschloss, die sie schon auf dem Bild im Internet gesehen hatten. Dann kam, etwas erhöht, eine weitere freie Fläche mit diagonal verlegten schwarz-weißen Fliesen. Und dahinter erhob sich, scheinbar stolz auf das Geschehen in der Kirche herabblickend, der eigentliche Altar. Links und rechts ragten runde Säulen hervor, darüber war ein richtiges Giebeldach – als sehe man durch die Fassade eines Tempels in eine andere Welt. Oben in der Mitte füllte ein großes Ölgemälde die Fläche aus. Es zeigte altertümliche Figuren am Boden und weiter oben schwebende Menschen in einem gemalten Himmel. Der Sinn wurde ihr allerdings nicht klar.
»Das Bild zeigt das Martyrium des heiligen Stephanus«, erklärte Jakob. »Ihm ist der Dom geweiht. Er wurde gesteinigt.«
Sie betrachtete das Gemälde. Darstellungen von Heiligen fand sie immer ziemlich langweilig. Auch dieses Bild wollte in ihr nicht den Eindruck erzeugen, dass man hier eine Hinrichtung sah. Es wirkte alles ganz gelöst und harmonisch, fast heiter.
»Das sieht nicht sehr grausam aus«, sagte sie.
»Es war auch nicht die Absicht des Malers, es so aussehen zu lassen. Schließlich haben die Martyrien der katholischen Heiligen einen höheren Sinn. Sie dienen der ewigen Glückseligkeit. Und das soll in dem Bild auch zum Ausdruck kommen.«
Sie ließ ihren Blick über die weitere Ausstattung des Hochaltars schweifen. Neben dem Bild standen vier weiße steinerne Figuren, die das Ganze zu bewachen schienen.
»Diese vier sind auch Heilige«, sagte Jakob. »Sebastian, Leopold, Florian und Rochus.«
»Was sollen wir jetzt machen?«, flüsterte sie.
Gerade schob sich wieder eine größere Gruppe von Touristen an ihnen vorbei und drängte sich an die Brüstung. Kameras blitzten und klickten. Gemurmel war zu hören.
»Wir müssen irgendwie da vorn hingelangen.«
»Aber das wird nicht gehen. Schau mal hier.«
Sie deutete auf die vorderste der Säulen, die den mittleren Bereich vom linken Seitenschiff trennten. In etwa drei Metern Höhe war eine Videokamera angebracht, die genau auf den Altar gerichtet war.
»Wahrscheinlich gibt es zusätzlich noch Bewegungsmelder.«
Er sah zu der Kamera hinüber. »Wir müssen uns was überlegen. Vor allem dürfen wir uns nicht so auffällig verhalten. Setzen wir uns erst mal hin.«
Sie wandten sich der ersten Bankreihe zu. Im hinteren Bereich der Kirche drängten immer mehr Menschen herein. Mara wollte sich gerade hinsetzen, da trat eine dünne Gestalt hervor. Mara erschrak, drehte sich sofort um und setzte sich.
»Was ist?«, fragte Jakob. Er wollte sich umdrehen, doch Mara hielt ihn zurück.
»Nicht hinsehen.«
Sie blickte noch einmal hin.
Die Gestalt war verschwunden. War sie nur eine Einbildung gewesen? Oder war der Mann hinter eine Säule getreten? Oder zurück in das Dunkel am Domeingang?
Und wenn er es war – woher wusste er, dass sie hier waren?
»Ich dachte, ich hätte Quint gesehen. Aber jetzt ist er wieder weg.«
Jakob blickte nach hinten und kniff die Augen zusammen. »Ich sehe ihn auch nicht«, sagte er.
»War vielleicht nur Einbildung. Woher soll er auch wissen, dass wir hier sind?«
»Wenn Ron es ihm nicht gesagt hat …«
»Ron weiß es auch nicht.«
Jakob fasste jetzt wieder den Altar ins Auge. Das Heiligtum stand weihevoll und schweigend da. Die steinerne Brüstung vor den Treppenstufen, die hinaufführten, war natürlich kein Hindernis. Aber Mara hatte die Männer in den diskreten schwarzen Anzügen gesehen, die hier im Dom aufpassten, dass sich jeder korrekt verhielt. Sie trugen einen weißen Clip am Revers, der sie als Mitarbeiter der Domverwaltung auswies. Sie würden niemals zulassen, dass man einfach zum Altar ging und dort nach etwas suchte.
»Schau mal«, unterbrach Jakob Maras Gedanken.
Sie hatte nachdenklich auf den schwarz-weißen Fußboden geblickt. Auch ihr war die Bewegung weiter vorn nicht entgangen.
»Siehst du, was ich sehe?«, fragte Jakob.
Mara nickte nur. Sie wussten nun beide, dass es eine Möglichkeit gab.
Quint erkannte einen vertrottelten, übernächtigten Junkie, wenn er einen sah. Und bei diesem Ron Smith handelte es sich um nichts anderes.
Der glasige Blick. Die struppigen Rastalocken, mit denen diese Idioten der Welt irgendetwas mitteilen wollten – zum Beispiel, wie cool sie waren, oder dass sie sich nicht in das herrschende Gesellschaftssystem einfügten. Dass sie ihr eigenes Leben lebten. Ein Leben, das darin bestand, Drogen zu nehmen, andere Menschen anzubetteln und
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