Die Orpheus-Prophezeiung: Thriller (German Edition)
gemeinsam hatten: Sie begeisterten sich für die Kunst der Antike. Vieles davon war ja noch zu sehen – zum Beispiel in Gestalt der Ruinen in Italien oder Griechenland. Auch viele literarische Zeugnisse waren überliefert – Homers Odyssee oder die Dramen der antiken Theaterautoren. Nur eines war verloren gegangen.«
»Und was?«, fragte Mara, obwohl sie ahnte, was es war.
»Die antike Musik. Man wusste aus den Quellen, dass sie eine große Bedeutung bei den Theateraufführungen besaß, aber auch bei den Mysterienkulten. Und da sie verloren gegangen war …«
»Einen Moment«, unterbrach Mara. »Wieso war sie verloren gegangen? Ist sie nicht aufgeschrieben worden?«
»Nein, nein … Die alten Griechen hatten nur eine sehr primitive Notenschrift. Möglichkeiten, Musik aufzuschreiben, hat man eigentlich erst im europäischen Mittelalter erfunden. Und erst damit begann die Geschichte der Noten, wie wir sie heute kennen … Die Musik der alten Griechen und Römer war also verloren. Aber man wollte den Geist der alten Dramen, den Geist der alten Mythen so plastisch wie möglich heraufbeschwören, man wollte die alten Dramen wiederauferstehen lassen. Und so fingen die Musiker an, sich vorzustellen, wie die Musik der alten Griechen wohl geklungen haben könnte. Und in Verbindung mit den Dramen, die sie nun über die alten Mythen im Stil der alten Griechen schrieben, entstand etwas Neues. Ein Drama mit Musik. Eine Theaterform, in der Musik, Handlung und Dichtung eine neue – oder wenn Sie so wollen – alte Verbindung eingingen.«
»Die Oper.«
»Die erste Oper wurde im Jahre 1598 aufgeführt. Der Komponist hieß Jacobo Peri. Er ist heute so gut wie vergessen. Aber das Werk muss großen Eindruck gemacht haben. Zwei Jahre später bekam Peri den Auftrag, eine zweite Oper zu schreiben, und zwar anlässlich einer Medici-Hochzeit.«
Medici … Das sagte Mara etwas. Das war der Name einer sehr einflussreichen italienischen Familie.
»Der Name dieser Oper wird ihnen etwas sagen. Sie hieß Euridice .«
»Sie hieß wie Orpheus’ Geliebte?«
»Sie handelte von Eurydikes Tod, von ihrem Aufenthalt in der Unterwelt und von ihrer Rettung. Ich denke, Sie kennen die Geschichte.«
»Ich habe davon gelesen, ja …«
»Von nun an waren Opern der Glanzpunkt großer fürstlicher Feste. Und das sollte in der gesamten Barockzeit so bleiben. Aber das ist nicht das, was uns in diesem Moment interessiert. Bei der Aufführung von Peris Oper war ein florentinischer Kaufmann dabei, der sich so seine eigenen Gedanken über die Antike machte. Er wollte keine fantastischen Werke im Geist dieser alten Zeit erleben, er wollte die wirklichen Denkmäler und Artefakte erforschen, die aus dieser Zeit übrig geblieben sind …«
»Das heißt, er unterstützte Forschungen?«
»Sehr richtig. Er dachte, wenn Sie so wollen, modern. Während in Italien immer mehr Orpheus-Opern entstanden, unternahm er Studienreisen nach Südeuropa. Er sammelte, was er finden konnte, und er beschäftigte sich auch mit den religiösen Themen der Antike. Währenddessen wurde in Italien der Orpheus-Mythos immer populärer. 1607 schrieb der Opernkomponist Claudio Monteverdi die Oper L’ Orfeo für ein Fest des Herzogs von Mantua. Unser Kaufmann, der wohl über viel Geld verfügte, behielt diese Entwicklungen im Blick, doch seltsamerweise gelang es ihm nicht, die Welt für seine echten antiken Funde zu interessieren. Zu der Zeit, als Monteverdi seine Orpheus-Oper schrieb, hatte er wahrscheinlich schon Quellen über den echten Orpheus gefunden, womöglich sogar Reste einiger Dichtungen. Sie könnten aus der antiken Bibliothek von Alexandria stammen, die ja wahrscheinlich schon um die Zeit von Christi Geburt einem verheerenden Brand zum Opfer fiel. Als ob der Allmächtige mit der Geburt seines Sohnes das alte, heidnische Wissen habe hinwegfegen wollen. Entschuldigen Sie, ich schweife ab. Zurück zu dem besagten Kaufmann. Als er im Jahre 1660 mit siebzig Jahren starb, konnte er seinen Söhnen nur das gesammelte Material vererben. Und diese Söhne gründeten in Rom eine Orphische Akademie.«
»Eine Akademie? Eine Hochschule?«
»Nein … Der Begriff hatte damals eine andere Bedeutung. Es war ein Zirkel von Gleichgesinnten, die sich auf Treffen austauschen. Die Idee stammt ebenfalls aus der Antike. Es gab zum Beispiel in Athen eine Akademie um den berühmten Philosophen Platon. Man traf sich, einer trug vielleicht eine vorher erarbeitete These vor, man diskutierte darüber.
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