Die Orpheus-Prophezeiung: Thriller (German Edition)
war noch an. Sie musste nur sprechen.
»Natürlich bleiben«, hatte John ihr immer geraten. »Nicht alles verraten, aber in dem, was man sagt – auch wenn es nur wenig ist – immer natürlich bleiben. Bleibe immer du selbst. Das kommt am besten an, und das rührt die Menschen am meisten.«
Es schien noch leiser im Raum zu werden.
»Danke«, sagte Mara, und ihre Stimme kam ihr fremd vor. Tief und brüchig. Schwach. Sie räusperte sich.
»Was hat Ihnen Gritti bedeutet?«, rief jemand von hinten. »Stimmt es, dass er Ihr Geliebter war?«
Sofort riss Chloe das Mikro an sich. »Sie haben nachher noch Gelegenheit, Fragen zu stellen. Und bitte unterlassen Sie diese Unterstellungen. Hier geht es um Pietät.«
Mara bekam das Mikrofon wieder hingestellt. Reiß dich zusammen, dachte sie. Du wirst doch wohl ein paar vernünftige Sätze über Johns Tod hinkriegen. Das bist du den Fans doch schuldig. Und vielleicht ist es ja auch eine gute Gelegenheit, ihnen zu zeigen, wer du wirklich bist …
Sie musste über diesen Gedanken fast ein Grinsen unterdrücken.
Wer du wirklich bist …
Sie wusste es ja selbst nicht. Und sie hätte es so gerne gewusst. Sie hatte sehr gehofft, es mit Grittis Hilfe herauszufinden. Und dass das jetzt für alle Zeiten nicht mehr möglich sein sollte, machte sie mit einem Schlag noch trauriger. Es war, als hätte sich in ihr etwas geöffnet und entlasse eine Flut von Bitternis in ihrem Inneren.
Und mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie weinte. Kaum einen Atemzug später wurde es auch den Journalisten klar. Die Kameras klapperten und blitzten. Es wurde in Laptops getippt und geschrieben.
Ehrlich sein, natürlich sein, sich treu bleiben. Selbst wenn man weinte. Auch wenn die ganze Welt zusah.
»Gritti wollte mir zeigen, wer ich bin«, sagte sie, und jetzt klang ihre Stimme voller, aber ein wenig weinerlich. »Ich habe es noch nicht ganz herausgefunden, es war leider noch nicht so weit. Aber die Musik zeigt mir den Weg. Und ohne Gritti hätte ich diese Musik nie gemacht.«
»Liebten Sie ihn?«
Die Frage kam von ganz vorn. Es war die Frau im Kostüm. Chloe wollte das Mikro an sich ziehen, aber diesmal war Mara vorbereitet und hielt es fest.
Sie nickte. »Ja«, sagte sie nur.
Tastengeklapper, Kritzeln, Fotografieren. Tuscheln im Hintergrund.
Ein befreiendes Gefühl durchfuhr Mara. Sollten sie es doch schreiben. Sollten sie doch denken, was sie wollten.
Sollten sie es doch auffassen, als sei das Verhältnis zwischen ihr und John ein schmutziges Verhältnis gewesen, etwas Sexuelles, was ja in den Augen dieser Art von Presse immer gleich etwas Schmutziges war.
Natürlich bleiben, ehrlich bleiben.
Chloe machte ein verbissenes Gesicht. Wahrscheinlich war sie der Ansicht, dass Mara einen Fehler gemacht hatte. Egal. Wenn es vor so einer PK keine Besprechung gab, tat sie eben das, wozu sie aufgefordert wurde. Chloe wollte ansetzen und etwas beisteuern, als etwas Überraschendes geschah.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Raums öffnete sich die Tür. Zwei Männer kamen herein, sahen nicht nach links oder rechts, sondern bahnten sich zielstrebig und selbstbewusst im Mittelgang ihren Weg nach vorn. Der eine Mann – ein Glatzkopf in dunkelgrün kariertem Sakko und grauer Hose – sagte etwas zu einem Journalisten, der seine Mappe im Mittelgang abgestellt hatte und sie sofort beiseiteräumte. Ihm folgte der zweite Besucher: schwarzer Anzug, weißes Hemd mit offenem Kragen. Mara schaute in seine Augen, und ein schmerzhafter Stich zuckte durch ihren Körper, als sie für einen Moment John zu sehen glaubte. Eine jüngere Ausgabe. Und in diesem Moment wusste sie, wer das war: Grittis Bruder Al. Sie hatte ihn nie persönlich getroffen. Auch er war im Mediengeschäft, machte irgendetwas mit Film, aber Mara wusste es nicht genau. Während die beiden Männer auf die andere Seite des Tischs kamen und die freien Plätze ansteuerten, nahm Chloe das Mikro wieder an sich.
»Meine Damen und Herren«, sagte sie. »Begrüßen Sie mit mir John Grittis Bruder Alfred und Mr Kohn – seinen Anwalt.« Auf den Gesichtern der Journalisten machte sich wenig Begeisterung breit. Eher Ratlosigkeit. »Alfred Gritti wird seinen Bruder beerben«, erklärte Chloe. »Er ist eigens in der Nacht nach Berlin gekommen, um eine Erklärung dazu abzugeben, wie es mit Maras Tournee weitergeht. Falls noch detaillierte Fragen aufkommen, steht Ihnen Mr Kohn zur Verfügung. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass Mr Kohn nur Englisch
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