Die Orpheus-Prophezeiung: Thriller (German Edition)
der Dunkelheit um ihn herum zu schweben schien. Der Mann stand nur da und betrachtete Mara, die mit ihrer kleinen Band spielte. Fast hätte sie ihr nächstes Solo vermasselt, aber das wäre nicht so schlimm gewesen. Sie spielten ja keine Klassik, wo es auf jede richtige Note ankam. Sie jammten, sie gaben sogenannte Ein-Euro-Konzerte. Manchmal waren sogar Penner unter den Zuhörern, die sich zwischen den kahlen gemauerten Wänden zwei Stunden zu Hause fühlten, gemütlich neben ihren mit Habseligkeiten gefüllten Einkaufswagen saßen und zuhörten.
Nach dem ersten Besuch vergaß Mara den Mann, doch dann kam er wieder. Hörte wieder zu, starrte sie wieder an. Und so langsam fühlte sie sich ein wenig verfolgt – vor allem, als er beim fünften Mal oder so draußen vor dem von Graffiti verschmierten Eingang stand. Neben ihm wartete eine dunkle Limousine.
Mara versuchte tough zu sein. Angriff ist die beste Verteidigung, dachte sie und fragte: »Na? Hat es Ihnen gefallen?«
Er nickte nur. Und als sie stehen blieb, weil sie doch irgendwie erwartete, dass er noch mehr sagte, fragte er plötzlich: »Woher hast du die Violine?«
»Was geht Sie das an?« Im selben Moment war ihr klar, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Vielleicht war das Instrument Diebesgut. Sie wusste ja nicht, wo es herkam. Wenn sie Pech hatte, war es sehr wertvoll, stammte womöglich aus irgendeinem Museum, und der Mann war jemand, der das Ganze aufklären sollte. Wenn sie großes Pech hatte, dachte man noch, sie hätte etwas mit einem Diebstahl zu tun, und sie wanderte in den Knast. Niemand würde ihr abnehmen, dass sie die Geige geschenkt bekommen hatte.
Am besten, dachte Mara, klärten sie das gleich hier und jetzt. Sie wollte wissen, woran sie war.
»Warum interessiert Sie das?«, fragte sie.
»Die Geige gar nicht«, behauptete er plötzlich. Mara hatte das deutliche Gefühl, dass er nicht die Wahrheit sagte. »Ich bin mehr daran interessiert, was du damit anstellst.«
Was sollte das nun heißen?
Er griff in die Tasche und hielt ihr etwas hin. Die Visitenkarte einer Musikfirma. Eines Plattenlabels. Und einer Konzertagentur.
»Ruf mich an«, sagte er.
Und erst jetzt las sie den seltsamen Namen des Mannes. Er klang italienisch.
Gritti.
Der Handyton riss Mara aus ihren Erinnerungen zurück auf die Hasenheide. Sie griff nach dem Telefon. Im selben Moment traf sie eine Windbö, die über die freie Fläche fegte. Und als sie sich umdrehte, um hinter einem Baum Schutz zu suchen, entdeckte sie den Mann. Eine dunkle Gestalt, die sie anstarrte.
Als sei Gritti wiederauferstanden aus ihrer Erinnerung und betrachte sie wie damals erst einmal ruhig, bevor er sie ansprach. Aber es war nicht Gritti. Der Typ da hinten hatte eine ganz andere Figur. Und er hatte dunkles, glatt anliegendes Haar. Eng zusammenstehende Augen. Insgesamt eine dünne, fast hagere Gestalt. Er stand da wie der typische Serientäter, der in Parks nach Opfern sucht. Kaum hatte Mara ihn bemerkt, drehte er sich um und verschwand auf einem Nebenweg.
Im Telefonhörer fauchte der Wind. Sie musste sich das andere Ohr zuhalten.
»Mara?«, rief Chloe. »Bist du fertig bei der Polizei? Wann kommst du?«
»Ich bin auf dem Rückweg.«
»Sitzt du im Taxi?«
»Nein, ich bin zu Fuß unterwegs.«
»Zu Fuß?« Chloe schrie fast. »Wieso gehst du zu Fuß? Hör mal zu, in zwanzig Minuten geht das hier los, und du hast gefälligst da zu sein. Die Presse wartet schon.«
Ich weiß, dachte Mara. Ich habe sie ja gesehen, als ich wegfuhr. Das brauchst du mir nicht zu sagen.
»Wenn du jetzt einfach so durch die Stadt läufst, könnte dich jemand erkennen. Wo genau bist du? Ich lasse dir ein Taxi schicken.«
Mara seufzte. »Ich bin ja gleich da. Lass mich doch noch etwas durchatmen.«
Sie sah wieder zu der Stelle hin, wo der Mann verschwunden war. Erst jetzt kam ihr der Gedanke, dass es sich auch um einen Journalisten gehandelt haben könnte. Wahrscheinlich hatte Chloe doch recht. Was sollte sie tun, wenn sie hier plötzlich von Presseleuten gestellt wurde?
»Sag mir, wo du bist«, beharrte Chloe.
»Hasenheide.«
»Die junge Dame hat also einen Ausflug ins Grüne gemacht. Sieh zu, dass du dich nicht erkältest. Graefestraße – kennst du die? Sie geht genau auf die Hasenheide zu. Da ist ein Minigolfplatz. Dort wirst du abgeholt. Bis gleich.«
Die Leitung war unterbrochen. Mara sah sich um. Sie war ganz alleine in dem Park. Sie hielt sich nach Norden, ließ sich aber Zeit. Dabei hörte sie im
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