Die Orpheus-Prophezeiung: Thriller (German Edition)
darüber nachgedacht, ob er den Rucksack auch aus dem Fach nehmen sollte. Es würde dann wie ein ganz normaler Diebstahl aussehen. Wenn er nur die Geige mitnahm, wusste Mara, dass der Dieb es nur auf das Instrument abgesehen hatte. Zumindest mit großer Wahrscheinlichkeit.
Er konnte nicht lange überlegen. Jugendliche drängten vorbei, beobachteten ihn. Falls Mara die Polizei benachrichtigte, war es möglich, dass es Zeugenaussagen gab.
Er holte also nur den Geigenkasten heraus, lud ihn einfach in ein anderes Fach um, warf Geld ein und schloss ab.
Etwas später sah er Mara, wie sie an einem Automaten Bankgeschäften nachging. Besonders glücklich schien sie nicht auszusehen. Sie nahm ihre Umgebung nicht wahr. Er wusste, dass sie ihn erkennen würde, wenn sie sich nur umdrehte, aber er ging nahe an ihr vorbei und stellte sich in den Zeitschriftenladen.
Die Bankgeschäfte waren wohl nicht zu Maras Zufriedenheit verlaufen. Er glaubte, an ihren Lippen ablesen zu können, dass sie einen Fluch ausstieß. Dann zog sie ihr Handy hervor und begann zu telefonieren.
Quint blieb unbeweglich stehen. Endlich war auch das Telefonat beendet, und kaum war Mara ein paar Schritte gegangen, da bemerkte sie, dass der Schließfachschlüssel fehlte.
Und während er mit seiner Umgebung verschmolz, wurde Quint Zeuge ihrer Panik.
Niemand sonst schien Mara zu beachten, niemand kümmerte sich um sie, als sie aus dem Gang mit den Schließfächern herausstürmte, sich kurz umsah, ihn natürlich nicht bemerkte. Weiterlief. Und in Richtung Ausgang verschwand.
17
Das Arbeitszimmer des Erzbischofs wirkte wie das Büro eines Verwaltungsbeamten und nicht wie das Refugium eines Kirchenfürsten.
Wessely war an der Tür stehen geblieben und betrachtete seine Exzellenz, wie sie sich in dem überheizten Zimmer mit einem Taschentuch die Stirn wischte, einen Aktenordner schloss und ihn ächzend neben sich auf den Boden stellte – zu einer ganzen Reihe weiterer. Auch der riesige Schreibtisch war mit Papieren bedeckt – manche nicht in Aktenordnern gesammelt, sondern zu dicken Bündeln gepackt und mit Gummiringen zusammengehalten, die jeden Moment zu reißen drohten. Hinter dem Bischof erstreckte sich an der Wand entlang ein Regal, das längst nicht mehr in der Lage war, all die Papierflut aufzunehmen.
Kein Wunder, dachte Wessely. Die Residenz dieses obersten Chefs des Bistums war einst gebaut worden, damit er wie ein Fürst repräsentieren konnte. Hof halten. Seine Untergebenen mit seinem Glanz beeindrucken und gegebenenfalls einschüchtern. Heute hatte so ein Erzbistum eher den Charakter einer Behörde. Bis auf wenige Ausnahmen trug der Bischof nicht sein purpurfarbenes Ornat, sondern einen dunklen Anzug. Wäre da nicht das weiße Kollar gewesen – man hätte ihn kaum von einem älteren Professor oder einem Bankvorstand unterscheiden können.
Immerhin gab es in diesem Raum Zeichen dafür, dass man sich in einer Machtzentrale der Kirche befand. Über dem Regal im Rücken seiner Exzellenz hing ein großes dunkles Kruzifix. Allerdings grenzte es in Wesselys Augen schon an Gotteslästerung, dass der Bischof dem Gekreuzigten seine Kehrseite zuwandte. Dafür hatte er ein Bild der heiligen Jungfrau Maria im Auge, das wie ein Familienfoto am hinteren Rand des Schreibtischs stand, aber jeden Moment nach hinten zu kippen und hinunterzufallen drohte.
»Willkommen, willkommen«, sagte der Bischof mit seinem gemütlichen burgenländischen Akzent. »Nehmen Sie doch Platz. Und seien Sie dann so freundlich, mir zu verraten, was Sie von mir wollen.«
»Entschuldigen Sie«, sagte Wessely, zog sich den einzigen der drei Stühle heran, der nicht von Papierstapeln bedeckt war, und setzte sich. » Sie haben mich doch kommen lassen …«
Der Bischof zog die Stirn kraus, griff neben sich und bediente eine Gegensprechanlage. »Pater Gregorius, ich habe Herrn Wessely hier. Worum ging es da doch gleich? Kommen Sie doch bitte schön geschwind herüber.« Er nahm den Finger von dem Gerät und blätterte nervös in einem Kalender. »Es wird sich gleich alles klären, lieber Wessely, keine Sorge …«
Kurz darauf klopfte es, und die Tür öffnete sich. Ein streng blickender Mann in dunkler Kutte mit hängender Kapuze auf dem Rücken kam herein. Sein Gesicht wirkte hager, fast ausgemergelt, und Wessely zuckte bei seinem Anblick innerlich zusammen. Das war ein ganz anderer Mensch als der Bischof. Kein überlasteter Bürokrat mit einem eher harmlos gutmütigen Herzen,
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