Die Orpheus-Prophezeiung: Thriller (German Edition)
Neujahrskonzert. »Ich weiß, dass man sich im Internet schnell duzt, aber ich bin altmodisch und würde persönlich gerne beim Sie bleiben. Vielleicht erlauben Sie mir aber, Sie beim Vornamen zu nennen.«
Mara versuchte zu schätzen, wie alt er sein mochte. Das Licht von der Leinwand brachte sein Gesicht nun doch recht klar zum Vorschein. Sie erkannte eine ausgeprägte Nase und Falten, die sich auf beiden Seiten herunterzogen. Sehr dünnes dunkles Haar, das weit über der hohen Stirn in Fransen herabhing. Der Mann trug keine Brille. Seine Augen waren schmal und schienen in tiefen Furchen zu liegen.
»In Ordnung«, sagte Mara, und sie sprach instinktiv gerade laut genug, damit er sie in der Klangwolke verstand, die sie umgab.
»Sie scheinen diese traditionelle Wiener Musikveranstaltung nicht zu schätzen.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Ich habe Sie beobachtet, als ich hereinkam. Sie hatten zwar die Augen geschlossen wie so mancher, der sich ganz und gar auf die Musik konzentrieren möchte, aber Ihr Gesicht wirkte ziemlich gequält.«
»Wollen wir uns hier unterhalten?«, fragte sie. »Ich fände die Musik dabei störend.«
Plötzlich hielt er seine Hand in die Helligkeit. Zwischen seinen Fingern steckte etwas, das wie ein kleines Kärtchen aussah. »Nehmen Sie das.«
»Was ist das?«
»Wir werden die Sicherheitsmaßnahmen noch verbessern. Es ist eine Bahnkarte. Ich werde jetzt den Raum verlassen und mich unten vor der Tür aufhalten. Folgen Sie mir nach einer Weile.«
Er stand auf und ging hinaus.
Wie lange sollte Mara warten? Sie beschloss, sitzen zu bleiben, bis der Walzer zu Ende war, der da vorn gerade zelebriert wurde. Es dauerte nur wenige Minuten. Als dirigiere der Kapellmeister nicht nur das Orchester, sondern auch das Publikum, legten die festlich gekleideten Zuschauer sofort nach dem Schlusston mit dem Beifall los. Mara stand auf, und als sie dem Ausgang zustrebte, kam sie sich vor, als verlasse sie selbst ein Konzert mitten im Programm.
Der Applaus brandete weiter, als sie an dem kleinen CD -Shop vorbeikam und zur Treppe strebte. Vor dem Haus, auf der anderen Straßenseite, wartete der Mann. Er hatte sein Gesicht abgewandt, schien aber doch Maras Ankunft zu bemerken und setzte sich in Bewegung.
Es ging Richtung Stephansdom. Auf dem Platz neben der Kathedrale fiel es Mara inmitten des Touristenrummels gar nicht so leicht, ihn im Auge zu behalten. Doch dann sah sie den schwarzen Anzug am Abgang zur U-Bahn-Station wieder, und sie folgte ihm bis auf einen Bahnsteig. Unterwegs entwertete sie die Karte, und zwischen all den Menschen, die auf die nächste U-Bahn warteten, behielt sie den Mann im Auge.
Er hatte es nicht ausdrücklich gewünscht, aber ihr war klar, dass es besser war, ihn nicht anzusprechen. Niemand sollte sie und ihn miteinander in Verbindung bringen.
Schließlich fuhr ein Zug ein, und der Mann bestieg ihn. Mara tat es ihm nach, einen Wagen weiter. Drinnen bahnte sie sich einen Weg in die Richtung des Unbekannten, gerade so weit, dass sie ihn sehen konnte.
Die Fahrt ging über mehrere Stationen. Mara hörte gar nicht hin, sie hatte auch nicht darauf geachtet, in welche Bahn sie gestiegen waren. Sie kannte sich in Wien ohnehin kaum aus.
Doch sie hatte Gelegenheit, den Unbekannten zu betrachten, der ihr nicht ein einziges Mal ins Gesicht sah. Die Furchen mussten durch die Lichtverhältnisse in dem kleinen Kino dramatischer gewirkt haben, als sie wirklich waren. Und nun wurde Mara auch klar, dass der Mann nicht so alt war, wie sie gedacht hatte. Fünfzig vielleicht.
Die Ansage kündigte die nächste Station an. Und als wollte der Mann ihr ein Zeichen geben, wandte er sich Mara zu und drehte sich dann zum Ausgang.
In diesem Moment erkannte Mara etwas, das ihr bis dahin noch nicht aufgefallen war, weil sie den Mann nicht richtig von vorn hatte sehen können: Er trug nicht nur einen schwarzen Anzug und ein schwarzes Hemd, sondern auch den weißen Kragenspiegel der Kirchenleute.
Orpheus war ein Geistlicher.
31
Sie verließen die U-Bahn und gelangten wieder an die Oberfläche. Eine breite Straße, von mächtigen historischen Gebäuden gesäumt, empfing sie. Ein Park hinter einem langen schmiedeeisernen Zaun.
An einer Tordurchfahrt drängten sich Touristen. Ein Stück weiter schoben sich Busse aneinander. Mara sah im Vorbeigehen eine Beschilderung: Hofburg. Sie erinnerte sich, dass sie auch hier mit ihren sogenannten Eltern gewesen war.
Wo war der Mann?
Einen Moment lang
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