Die Orpheus-Prophezeiung: Thriller (German Edition)
Fassade. Über dem Eingang wehte die rotweiße österreichische Flagge. Sie durchschritt das Tor und gelangte zu einem modernen Innenbereich. Eine seltsame Klangkulisse empfing sie – eine Geräuschcollage aus Wispern und Pfeifen.
Sie zahlte den Eintritt, stellte dabei fest, dass sie nun wirklich ihr letztes Geld loswurde, und folgte einer Treppe in den ersten Stock. Hier ging es in einen großen Raum mit Vitrinen: Hinter dem Glas waren Partituren zu sehen, Programmzettel in alter deutscher Schrift, Plakate und immer wieder die Porträts von Komponisten. In einer Ecke hatte man einer kopflosen Schneiderpuppe Hemd, Fliege und Frack angezogen. Mara ging neugierig heran und las, dass es sich um die Auftrittskleidung von Leonard Bernstein handelte.
Auch Goldene Schallplatten zierten die Wände. In der Mitte des Raums gab es sogar einen kleinen CD -Shop – ein von Verkaufsregalen umgebenes Rund, in dem eine junge Frau saß und las. Sie hatte nur einmal kurz aufgesehen, als Mara den Raum betrat, sich dann aber wieder ihrem Buch zugewandt. Wahrscheinlich war sie eine Studentin, die hier jobbte.
Mara war die einzige Besucherin. Die meisten Touristen nutzten im Moment wohl lieber das schöne Wetter.
Neben einer Liste der Neujahrskonzertdirigenten mit Jahreszahlen, in goldenen Buchstaben an die weiße Wand geschrieben, führte ein schmaler Durchgang in einen dunklen Raum, aus dem genau die Musik drang, die Mara von den vielen Neujahrstagen ihrer Jugend kannte. Walzerklänge.
Der Raum war dunkel. Auf einer Leinwand war ein Dirigent im Frack vor einem Orchester zu sehen. Inmitten des berühmten Goldenen Saals mit seinem herausgeputzten Blumenschmuck.
Mara wartete, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Bald waren die Konturen der Kinositze zu erkennen, und sie erkannte, dass sie alleine im Raum war.
Wo genau sollte der Treffpunkt sein?
Hier drinnen? Oder draußen vor der Dirigentenliste?
Doch sicher hier. Denn hier fand das Konzert ja statt – wenn auch nur als Film.
Sie setzte sich so, dass sie den Eingang im Auge hatte, und betrachtete die Vorführung auf dem großen Monitor.
Der Mann vor dem Orchester wirkte streng, dabei versuchte die Musik, leicht daherzukommen, so etwas wie Sektlaune zu verbreiten.
Er benahm sich genau so, wie es Mara an den klassischen Dirigenten schon immer lächerlich gefunden hatte. Er tat, als müsse er den Ausdruck der Musik selbst verkörpern wie ein Schauspieler. Als würden dadurch die Geiger, Flötisten, Trompeter und Kontrabassisten und all die anderen erst zu der Inspiration finden, die sie brauchten, um diese Musik zu spielen.
Mara wusste, dass es ganz anders war. Die Musiker machten die Musik. Der Dirigent gab den Takt vor. Und er übte mit dem Orchester ein, was er sich vorstellte.
Und die Musik tanzte beschwingt. Wenn Mara die Augen schloss, konnte sie diesen Ausdruck deutlich wahrnehmen. Aber wenn sie die Augen öffnete, dann sah sie nur Ernsthaftigkeit. Ein erstarrtes Ritual. Keine Freude, keinen Spaß. Dafür triefte die ganze Vorführung von Selbstinszenierung, als seien sich alle Beteiligten sicher, etwas sehr Bedeutendes zu tun.
Es wurde zehn vor sieben, es wurde drei vor sieben, es wurde sieben.
Während Maras Unruhe wuchs, ging ihr die Musik, diese verspießerte Festlichkeit auf dem Monitor da vorn, immer mehr auf die Nerven. Sie versuchte, sich zu entspannen, rückte auf dem Stuhl so weit nach hinten wie möglich und drückte ihr ganzes Körpergewicht gegen die Lehne. Sie schloss die Augen, atmete tief durch und hätte sich am liebsten auch noch die Ohren verstopft.
Die Lehne des Stuhls bewegte sich. Jemand war in den Raum gekommen und hatte sich neben sie gesetzt. Weil die Stühle sich berührten, hatte er die Bewegung ausgelöst. Er musste sehr leise gewesen sein, denn Mara hatte hinter dem Walzerorchester keine Schritte oder sonst ein Geräusch gehört.
Der Mann – und Mara war sich sicher, dass es ein Mann war – strömte einen muffigen Geruch aus. Nach Schweiß und altem Atem. Er musste alt sein.
Sie öffnete die Augen.
»Herzlich willkommen in Wien«, vernahm sie eine Stimme ganz und gar ohne österreichischen Akzent. »Ich darf Sie doch weiterhin einfach Mara nennen?«
Er duzte sie nicht wie im Internet. War er vielleicht gar nicht ihr Chatpartner?
»Orpheus?«, fragte sie.
Sie wandte sich nach links, wo er Platz genommen hatte, und erkannte ein helles Gesicht, dunkle Kleidung.
Er blickte nach vorn auf das gefilmte
Weitere Kostenlose Bücher