Die Päpste: Herrscher über den Glauben - von Petrus bis Franziskus - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Am 16. Oktober 1943 durchsuchte die SS das alte römische Ghetto und trieb mehr als tausend Juden zusammen. Der Papst bestellte den deutschen Botschafter beim Vatikan, Ernst von Weizsäcker, den Vater des späteren Bundespräsidenten, ein und erhob dagegen Einspruch.
Daraufhin brach die SS die Verhaftungen in Rom zunächst ab. Wenige Tage später gewährte Pius XII . untergetauchten Juden Kirchenasyl. Rund 7000 in Rom lebende Juden wurden versteckt, mehr als 4000 von ihnen in römischen Klöstern und im Vatikan. Der Papst konnte jedoch nicht verhindern, dass die bereits festgenommenen Juden ins KZ Auschwitz deportiert wurden, wo die meisten von ihnen umgebracht wurden.
Auch außerhalb Italiens trug Pius XII . zur Rettung bedrohter Juden bei. Als nach dem deutschen Einmarsch in Ungarn im Mai 1944 eine nazifreundliche Regierung begann, Juden in deutsche Konzentrationslager zu deportieren, schaltete sich der Papst ein. In einem offenen Telegramm forderte er den autoritär herrschenden »Reichsverweser« Miklós Horthy auf, alles zu tun, um »so vielen unglücklichen Menschen«, die wegen »ihrer Nationalität oder rassischen Abstammung« verfolgt würden, »neues Leid zu ersparen«.
Der »Reichsverweser« lenkte sofort ein: »Mit dem tiefsten Verständnis und mit Dankbarkeit empfange ich die telegrafische Botschaft Eurer Heiligkeit.« Horthy, wiewohl Antisemit, wollte öffentlich nicht mit Massenmorden in Verbindung gebracht werden und befahl, die Deportationen einzustellen.
Nachdem die deutsche Führung im Oktober 1944 den ungarischen Nazi-Epigonen und »Pfeilkreuzler«-Führer Ferenc Szálasi gegen Horthy an die Macht geputscht hatte, setzte eine neuerliche Deportationswelle ein. Dagegen protestierte der päpstliche Nuntius gemeinsam mit anderen europäischen Diplomaten. Die päpstliche Nuntiatur stellte Tausenden von Juden Schutzbriefe aus, die ihnen freies Geleit ermöglichten; katholische Geistliche gaben Juden gefälschte Taufscheine. So bewahrte die Kirche, mit dem Rückhalt des Papstes, viele Tausend ungarische Juden vor der Vernichtung.
Als Pius XII . im Oktober 1958 in Castel Gandolfo starb, erinnerte Golda Meir, die damalige israelische Außenministerin und spätere Premierministerin, dankbar an dessen Hilfe für bedrohte Juden im Zweiten Weltkrieg: »Als das schreckliche Martyrium über unser Volk kam, hat der Papst seine Stimme für die Opfer erhoben.«
Unheilige Dreifaltigkeit
Der ungeklärte Mord an einem Mailänder Bankier 1982 lässt erkennen, wie gefährlich der Vatikan mit der italienischen Politik und der Mafia verflochten ist.
Von Gunther Latsch
Der Mann, der am Morgen des 18. Juni 1982 mit Ziegelsteinen in den Taschen und im Hosenschlitz unter der Blackfriars-Brücke in London baumelte, war klein, dick und hatte offenbar ein Kunststück vollbracht.
Denn um sich auf diese Weise zu entleiben, hätte der stark hinkende 62-Jährige sich unter die Eisenbrücke schwingen und Meter für Meter an einem Baugerüst entlangklettern müssen – ohne die Steine zu verlieren. Anschließend hätte er sich mit einer Hand festhalten und mit der anderen das Seil um den Hals legen müssen, um sich dann in die Tiefe fallen zu lassen. Ein Kraftakt, der noch nicht einmal Spuren an seinen manikürten Fingernägeln hinterlassen hatte.
Die Ermittler der Londoner Polizei fanden das Szenario plausibel und folgerten messerscharf, der Mann habe Selbstmord begangen. Dabei blieben sie auch, als sie erfuhren, dass es sich bei dem Toten um Roberto Calvi handelte, den langjährigen Präsidenten des italienischen Banco Ambrosiano, auf dessen Stellvertreter wenige Wochen zuvor geschossen worden war. Erst 2002, nachdem Calvis Leichnam auf jahrelanges Drängen seiner Familie exhumiert und von einem Gutachter-Team obduziert worden war, korrigierten italienische Staatsanwälte den Fehler ihrer britischen Kollegen. Calvi war ermordet worden. Blieb die Frage: von wem?
Kaum ein anderer Fall in der jüngeren Geschichte Italiens hat so viel Aufsehen erregt wie der Mord am »Bankier Gottes«, wie Calvi wegen seiner engen Verbindungen zum Vatikan zu Lebzeiten genannt worden war. Denn wie unter einem Mikroskop ist hier jene unheilige Dreifaltigkeit von Politik, Mafia und Vatikan zu besichtigen, die das Land jahrzehntelang gelähmt und gepeinigt hat – und die bis heute nachwirkt.
Bis Anfang der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts war das Mailänder Kreditinstitut eine biedere katholische Privatbank, benannt nach dem heiligen
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