Die Päpstin
sichtlich zuwider.
»Nein«, sagte Johanna. »Du würdest die Außenschule besuchen, an der Laienschüler unterrichtet werden. Aber dann müßtest du
dein Zuhause verlassen und beim Kloster wohnen. Und es würde bedeuten, daß du hart lernen mußt; denn der Lehrmeister ist sehr
streng. Möchtest du die Schule trotzdem besuchen, wenn ich es einrichten kann?«
Arn zögerte keinen Augenblick. »Oh, ja! Ja, bitte!«
»Also gut. Morgen kehren wir nach Fulda zurück. Dann werde ich mit dem Lehrmeister reden.«
»Endlich!« Bruder Benjamin atmete vor Erleichterung auf. Genau vor ihnen – dort, wo die steinige Straße sich mit dem Horizont
vereinte – erhoben sich die kahlen grauen Mauern des Klosters zu Fulda; hinter der Abtei ragten die beiden Türme der Klosterkirche
auf.
Die kleine Reisegruppe hatte die lange, ermüdende Strecke von Madalgis’ Hütte bis hierher hinter sich gebracht, doch die feuchte,
kalte Luft hatte Benjamins Rheuma verschlimmert, so daß jeder Schritt eine Qual für ihn war.
»Jetzt sind wir bald am Ziel«, sagte Johanna. »In einer |280| Stunde sitzt Ihr im Aufwärmzimmer, die Beine hoch gelegt und die Füße vor dem Herd.«
In der Ferne kündeten ein Hornstoß und laute Rufe vom Herannahen der Reisenden; niemand konnte sich unbemerkt und unangemeldet
den Toren Fuldas nähern. Als Madalgis die Geräusche hörte, drückte sie nervös ihren Säugling an die Brust. Johanna und Bruder
Benjamin hatten alles getan, Madalgis zur nochmaligen Reise zum Kloster zu bewegen, und sie hatte nur unter der Bedingung
eingewilligt, diesmal von allen ihren Kindern begleitet zu werden.
Sämtliche Brüder hatten sich im Eingangshof des Klosters versammelt, um die Ankömmlinge zu begrüßen; feierlich hatten die
Mönche, ihrer Rangordnung entsprechend, Aufstellung genommen. Ganz vorn stand Abt Rabanus, in würdevoller Haltung und mit
schimmerndem silbernem Haar.
Ängstlich schreckte Madalgis bei seinem Anblick zurück und versteckte sich hinter Johanna.
»Tritt vor«, sagte Rabanus.
»Du brauchst keine Angst zu haben, Madalgis«, versicherte Johanna ihr. »Tu, was der Abt sagt.«
Madalgis trat vor und blieb zitternd inmitten der neugierigen, fremdartigen Versammlung stehen. Bei Madalgis’ Anblick durchliefen
erstauntes Raunen und Gemurmel die Reihen der Bruderschaft. Die häßlichen Geschwüre und Entzündungen waren bis auf einige
trockene, abheilende Stellen verschwunden; die sonnengebräunte Haut in Madalgis’ Gesicht und auf den Armen war wieder glatt
und rein, wie frisch erblüht in der neu gewonnenen Gesundheit. Nun gab es keinen Zweifel mehr: Selbst der unerfahrenste Betrachter
konnte erkennen, daß die Frau, die vor ihm stand, keine Aussätzige war.
»O Wunder! O Zeichen der göttlichen Gnade!« rief Bischof Otgar voller Ehrfurcht. »Wie Lazarus ist diese Frau von den Toten
in die Welt der Lebenden zurückgekehrt!«
Nun drängten die Mönche sich um die Ankömmlinge und trieben die kleine Reisegruppe im Triumphzug zur Kirche.
Daß Johanna Madalgis geheilt hatte, wurde schlichtweg als Wunder betrachtet. Ganz Fulda stimmte in den Lobgesang auf Bruder
Johannes Anglicus ein. Als Bruder Aldwin – ein älterer Mönch und einer der beiden Priester der Klostergemeinschaft – eines
Nachts im Schlaf starb, gab es unter den Mönchen keinen Zweifel, wer sein Nachfolger werden sollte.
|281| Abt Rabanus jedoch war anderer Meinung. Johannes Anglicus hatte für sein Empfinden eine zu respektlose, ja, anmaßende Art
und war ihm nicht unterwürfig genug. Der Abt gab Bruder Thomas den Vorzug, der zwar nicht die überragenden Geistesgaben des
Johannes Anglicus besaß, wie jedermann wußte, der aber sehr viel berechenbarer war – eine Eigenschaft, die Rabanus schätzte.
Doch Bischof Otgar mußte noch in die Rechnung mit einbezogen werden. Der Bischof wußte, daß Gottschalk bei der Geißelung beinahe
ums Leben gekommen wäre, und dieser Vorfall warf ein schlechtes Licht auf Rabanus. Falls der Abt bei seiner Entscheidung,
wer neuer Priester werden sollte, Johannes Anglicus zugunsten eines weniger befähigten Bruders überging, konnte dies weitere
Fragen aufwerfen, was Rabanus’ Amtsführung betraf. Und falls der König Schlechtes über ihn hörte, konnte es sein, daß er ihn
als Abt ablösen ließ – ein undenkbarer Ausgang! Rabanus Maurus beschloß, bei der Wahl des Priesters Umsicht walten zu lassen
– für den Augenblick jedenfalls.
Auf der
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