Die Päpstin
Kapitelversammlung verkündete er: »Als euer geistiger Vater steht mir das Recht zu, aus euren Reihen einen Priester
zu wählen. Nach vielen Gebeten und tiefer Selbstbesinnung habe ich mich für einen Bruder entschieden, der seiner großen Belesenheit
und Gelehrsamkeit wegen hervorragend für dieses Amt geeignet ist: Bruder Johannes Anglicus.«
Beifälliges Gemurmel erhob sich in den Reihen der Bruderschaft. Johanna errötete vor Aufregung.
Ich bin Priesterin!
Sie konnte es kaum fassen, von nun an die heiligen Sakramente erteilen zu dürfen. Es war der Wunschtraum ihres Vaters gewesen,
Matthias im Priesteramt zu sehen, und als Matthias starb, hatten alle seine Hoffnungen auf Johannes geruht. Was für eine Ironie
des Schicksals, daß die Tochter ihm nun diesen Lebenstraum erfüllte!
Bruder Thomas, der auf der gegenüberliegenden Seite des Kapitelsaales saß, warf Johanna einen düsteren Blick zu.
Das Priesteramt steht mir zu,
dachte er verbittert.
Und Rabanus hatte sich für mich entschieden! Hat er das nicht erst vor wenigen Wochen gesagt?
Doch alles hatte sich geändert, seit Johannes Anglicus die aussätzige Frau geheilt hatte. Es konnte einen rasend machen! Diese
Madalgis war ein Nichts, ein Niemand, kaum mehr als |282| eine Sklavin. Was machte es schon aus, ob sie ins Leprosarium kam, in das Spital für die Aussätzigen – und ob sie lebte oder
starb?
Daß Johannes Anglicus den Siegespreis davontragen sollte, war eine bittere Pille. Von Anfang an hatte Thomas ihn gehaßt –
Johannes’ messerscharfen Verstand, seinen Humor und seine überlegene Schlagfertigkeit, die Thomas mitunter selbst zu spüren
bekam; er hatte die Leichtigkeit gehaßt, mit der Johannes seine Lektionen gemeistert hatte. Thomas dagegen mußte sich abmühen.
Er hatte sich schinden müssen, um die lateinische Sprache zu lernen und die Ordensregeln auswendig zu können. Doch was Thomas
an geistiger Kraft fehlte, machte er durch Verbissenheit und das Bemühen wett, die äußeren Formen des Glaubens zu perfektionieren.
Jedesmal, wenn Thomas seine Mahlzeiten beendete, achtete er sorgfältig darauf, sein Messer und die Gabel als Tribut an das
heilige Kreuz Christi senkrecht auf den Tisch zu legen. Und niemals trank er seinen Wein auf einen Zug, wie die anderen, sondern
nippte bedächtig daran, nahm immer nur ehrfurchtsvoll drei kleine Schluck hintereinander, als fromme Veranschaulichung des
Wunders der Heiligen Dreifaltigkeit. Johannes Anglicus gab sich niemals auch nur die geringste Mühe, was solche demutsvollen
Handlungen betraf.
Thomas starrte seinen Rivalen düster an, der mit seinem wunderschönen Heiligenschein aus weißgoldenem Haar beinahe wie ein
Engel aussah.
Möge die Hölle ihn in ihrem ewigen Feuer verschlingen, wie auch den verfluchten Leib, der ihn hervorgebracht hat!
Das Refektorium – der Speisesaal der Mönche – war ein großes, gut fünfzehn Meter breites und über dreißig Meter langes Gebäude
mit Wänden aus behauenem Stein; das Bauwerk war deshalb so riesig, um allen dreihundertundfünfzig Mönchen, die zur Bruderschaft
Fulda zählten, gleichzeitig Platz bieten zu können. Mit seinen sieben hohen Fenstern an der Süd- und den sechs Fenstern an
der Nordseite, die während des ganzen Jahres das Sonnenlicht hindurchließen, zählte das Refektorium zu den freundlichsten
Räumen im ganzen Kloster. Die breiten Holzbalken und die Pfetten – die Dachstuhlbalken, auf denen die Sparren auflagen, waren
farbenfroh mit Szenen aus dem Leben des heiligen Bonifatius bemalt, dem Schutzheiligen Fuldas; die Bilder unterstrichen den
Eindruck |283| der Helligkeit und Weite, so daß der Raum jetzt, während der kurzen, kalten Tage des Winduminmanoth, ebenso freundlich wirkte
wie im Sommer.
Es war zwölf Uhr, zur sechsten Stunde. Die Brüder hatten sich im Refektorium versammelt, um ihr Mittagessen zu sich zu nehmen,
die erste der beiden täglichen Mahlzeiten; denn laut der Benediktinerregel war neben der einen Hauptmahlzeit am Mittag nur
ein kalter Imbiß am Abend vorgesehen. Abt Rabanus saß an dem langen, U-förmigen Tisch, der sich in der Mitte der nach Osten
gelegenen Wand befand. Rabanus wurde zur Rechten wie zur Linken von jeweils zwölf Mönchen flankiert, welche die Apostel Christi
versinnbildlichten. Auf dem langen Brettertisch standen schlichte Teller mit Brot, Hülsenfrüchten und Käse. Mäuse huschten
über den festgestampften lehmigen Fußboden, auf der
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