Die Päpstin
verstohlenen Suche nach Brotkrumen und Speiseresten, die zu Boden gefallen
waren.
Gemäß der Regel des heiligen Benedikt, nahmen die Brüder ihre Mahlzeiten stets schweigend ein. Dieses strenge Schweigegebot
wurde nur vom Klingen metallener Messer und Becher sowie der Stimme des Lektors unterbrochen, der für diese Woche bestimmt
worden war; er stand an der Kanzel und las aus den Psalmen oder aus dem Leben der Kirchenväter. »So, wie der sterbliche Körper
irdische Speisen zu sich nimmt«, pflegte Abt Rabanus zu sagen, »soll die Seele sich an geistiger Nahrung laben.«
Das
regulum taciturnitats
, oder das Schweigegebot, war jedoch ein Ideal, das zwar von allen anerkannt, aber nur von wenigen befolgt wurde. Die Brüder
hatten ein kunstvolles System der Zeichensprache ausgearbeitet – Gesten mit der Hand oder dem Gesicht –, das sie bei den Mahlzeiten
benutzten. Auf diese Weise konnten regelrechte Gespräche geführt werden, besonders, wenn der Lektor – wie in dieser Woche
– ein Langweiler war. Bruder Thomas las auf eine angestrengte, gekünstelte Weise, der es vollkommen an Leidenschaft mangelte
und bei der die beschwingte Poesie der Psalmen nicht zum Tragen kam; Thomas war sich dieser Mängel durchaus bewußt und versuchte,
sie durch Lautstärke wettzumachen, doch seine Stimme schmerzte seinen Mitbrüdern lediglich in den Ohren. Abt Rabanus bat Bruder
Thomas häufig, bei Tisch zu lesen, wobei er ihn den besseren und erfahreneren Lektoren des Klosters vorzog; denn, wie Rabanus
es ausdrückte: »Eine |284| zu süße Stimme lädt die Dämonen dazu ein, ins Herz zu kommen.«
»Pssst.« Der gedämpfte Laut erregte Johannas Aufmerksamkeit. Sie schaute von ihrem Teller auf und sah, wie Bruder Adalgar
ihr über den Tisch hinweg Zeichen gab.
Adalgar hielt vier Finger in die Höhe. Die Zahl bezeichnete ein Kapitel aus den Regeln des heiligen Benedikt, die ein häufig
benutztes Instrument für diese Art der klösterlichen Verständigung waren, da sie Mißverständnissen und unnötiger Weitschweifigkeit
vorbeugten.
Johanna rief sich die einleitenden Zeilen des vierten Kapitels ins Gedächtnis: »
Omnes supervenientes hospites tamquam Christus suscipiantur«,
lauteten die Worte. »Mögen alle, die da kommen, wie Christus empfangen werden.«
Johanna begriff sofort, was Bruder Adalgar damit meinte. Ein Besucher war nach Fulda gekommen – eine wichtige Persönlichkeit;
sonst hätte Bruder Adalgar sich gar nicht erst die Mühe gemacht, den Besucher zu erwähnen. Im Kloster Fulda wurden täglich
ein Dutzend und mehr Gäste empfangen, Reiche und Arme, Pilger in Pelzen, Bettler in Lumpen und müde Reisende, die zum Kloster
kamen, weil sie sicher sein konnten, nicht abgewiesen zu werden, sondern einige Tage Ruhe, Unterkunft und Verpflegung zu bekommen,
bevor sie sich wieder auf den Weg machten.
Johannas Neugier war geweckt. »Wer?« fragte sie, indem sie leicht die Brauen hob.
In diesem Moment gab Abt Rabanus das Zeichen, das Mahl zu beenden. Die Mönche erhoben sich gleichzeitig von den Bänken und
nahmen in der Reihenfolge ihres Ranges Aufstellung. Als sie im Gänsemarsch das Refektorium verließen, wandte Bruder Adalgar
sich noch einmal Johanna zu.
»Parens«,
gab er ihr zu verstehen und zeigte nachdrücklich mit dem Finger auf sie. »Ein Elternteil
von dir.«
Mit den bedächtigen Schritten und der heiteren, gelassenen Miene, wie sie einem Mönch des Klosters zu Fulda anstand, folgte
Johanna den Brüdern aus dem Refektorium. Nichts in ihrer äußeren Erscheinung verriet ihre tiefe innere Erregung.
Konnte Bruder Adalgar tatsächlich recht haben? War einer ihrer Eltern nach Fulda gekommen? Aber wer? Die Mutter oder der Vater?
Oder vielleicht beide?
Parens,
hatte Adalgar ihr |285| stumm zu verstehen gegeben, was auf das männliche Geschlecht hindeutete. Demnach war ihr Vater ins Kloster gekommen. Doch
er würde nicht damit rechnen, Johanna anzutreffen, sondern ihren Bruder Johannes. Der Gedanke erfüllte Johanna mit Schrecken.
Falls der Vater den Schwindel entdeckte, würde er sie mit Sicherheit bloßstellen.
Vielleicht aber war die Wortwahl
»parens«
ohne Bedeutung. Bruder Adalgar beherrschte die lateinische Sprache nur mittelmäßig. Vielleicht ist Mutter nach Fulda gekommen,
sagte sich Johanna. Und sie würde mein Geheimnis niemals verraten. Sie weiß bestimmt, daß eine solche Enthüllung mich das
Leben kosten würde.
Mama.
Zehn Jahre waren vergangen,
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