Die Päpstin
seit Johanna sie das letzte Mal gesehen hatte, und ihre Trennung war unschön und schmerzhaft gewesen.
Plötzlich wünschte Johanna sich mehr als alles andere, das vertraute, geliebte Gesicht Gudruns zu sehen; sie wollte die Mutter
in den Armen halten und von ihr gehalten werden; sie wollte Gudrun wieder in der melodischen alten Sprache ihres Volkes sprechen
hören.
Bruder Samuel, der für die Gäste zuständige
hospitarius,
fing Johanna ab, als sie das Refektorium verließ.
»Du bist heute Nachmittag von deinen Pflichten entbunden. Es ist jemand gekommen, der dich sehen möchte.«
Hin und her gerissen zwischen Furcht und Hoffnung, erwiderte Johanna nichts.
»Schau nicht so ernst drein, Bruder. Es ist ja nicht der Teufel gekommen, um sich deine unsterbliche Seele zu holen.« Bruder
Samuel lachte herzhaft. Er war ein gutmütiger, väterlicher Mann, der gern scherzte und lachte. Jahrelang hatte Abt Rabanus
ihn dieses Charakterzugs wegen gescholten und bestraft, hatte es dann aber schließlich aufgegeben und Samuel zum
hospitarius
ernannt; eine Aufgabe, für deren eher weltliche Pflichten – darunter die Begrüßung und Bewirtung der Gäste – Bruder Samuel
hervorragend geeignet war.
»Dein Vater ist hier«, sagte Bruder Samuel fröhlich und erfreut darüber, Johanna eine so gute Nachricht überbringen zu können.
»Er wartet im Garten, um dich zu begrüßen.«
Die Angst ließ Johannas Maske der Selbstbeherrschung zerbröckeln. Sie wich zurück und schüttelte den Kopf. »Ich möchte ihn
nicht sehen. Ich … ich kann nicht.«
Das Lächeln schwand von Bruder Samuels Lippen. »Na, hör |286| mal, Bruder, das kann doch nicht dein Ernst sein. Dein Vater hat die weite Reise von Ingelheim bis hierher auf sich genommen,
um mit dir zu sprechen.«
Johanna mußte Bruder Samuel irgendeine Erklärung liefern. Sie dachte fieberhaft nach; dann sagte sie: »Es … herrscht böses
Blut zwischen uns. Wir … haben uns gestritten, als ich … von zu Hause fortgegangen bin.«
Bruder Samuel legte Johanna den Arm um die Schultern. »Aber das ändert nichts daran, daß er dein Vater ist und die weite Reise
gemacht hat. Es ist ein Gebot der Nächstenliebe, mit ihm zu sprechen, und wenn’s auch nur ein paar Worte sind.«
In diesem Fall konnte Johanna ihm nicht widersprechen, und so erwiderte sie nichts.
Bruder Samuel deutete ihr Schweigen als Zustimmung. »Komm. Ich führe dich zu ihm.«
»Nein!« Johanna streifte seinen Arm von ihren Schultern.
Bruder Samuel blickte sie verdutzt an. Auf diese Weise ging man mit dem
hospitarius
nicht um; immerhin zählte er zu den sieben Amtsträgern des Klosters, denen man Gehorsam schuldete.
»Deine Seele ist in Aufruhr, Bruder«, sagte Samuel scharf. »Du brauchst spirituelle Führung. Wir werden die Angelegenheit
morgen in der Kapitelversammlung besprechen.«
Was kann ich nur tun?
fragte Johanna sich verzweifelt. Es würde schwierig, wenn nicht gar unmöglich sein, die wahre Identität vor dem Vater zu verbergen.
Doch eine Diskussion in der Kapitelversammlung käme ebenfalls einer Katastrophe gleich. Und es gab keine Entschuldigung für
ihr Verhalten. Falls man sie des Ungehorsams bezichtigte, wie damals Gottschalk …
»Verzeiht mir meinen Mangel an Mäßigung,
Nonnus«,
sagte sie zu Samuel und benutzte dabei die respektvolle Anrede gegenüber einem älteren Bruder. »Aber Ihr habt mich zu sehr
überrascht, und in meiner Verwirrung habe ich nicht daran gedacht, Euch die gebührende Achtung entgegenzubringen. Ich bitte
Euch demütigst um Nachsicht.«
Die respektvolle Entschuldigung fiel auf fruchtbaren Boden. Der strenge Ausdruck schwand aus Samuels Gesicht und verwandelte
sich in ein Lächeln. Für ihn war die Sache damit erledigt; er war kein nachtragender Mensch.
|287| »Ist schon gut, Bruder. Aber jetzt komm. Laß uns gemeinsam in den Garten gehen.«
Als sie vom Kreuzgang aus an den Viehställen, der Mühle und den Trockenöfen vorübergingen, schätzte Johanna rasch ihre Chancen
ab. Als ihr Vater sie das letzte Mal gesehen hatte, war sie ein Mädchen von zwölf Jahren gewesen. In den darauffolgenden zehn
Jahren hatte sie sich sehr verändert. Vielleicht würde ihr Vater sie ja doch nicht wiedererkennen. Vielleicht …
Sie gelangten in den Garten mit seinen ordentlichen Reihen von Anzuchtbeeten – dreizehn insgesamt. Die Zahl war sorgfältig
gewählt worden, um die Zusammenkunft Christi mit den zwölf Aposteln beim letzten Abendmahl zu
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