Die Päpstin
Erstaunen der Bruderschaft verkündete Abt Rabanus, er wolle das Kloster verlassen und eine Pilgerreise zum Grab des heiligen
Martin unternehmen, um den Beistand des Märtyrers zu erbitten, die Pest von den Menschen abzuwenden.
»Prior Joseph wird mich während meiner Abwesenheit in allen Belangen vertreten«, erklärte Rabanus. »Gehorcht ihm ohne Widerspruch,
denn sein Wort gilt gleich viel wie das meine.«
Rabanus’ unerwartet plötzlicher Entschluß und seine beinahe überstürzte Abreise sorgten für einige Spekulationen unter den
Mönchen. Einige Brüder priesen den Abt, daß er zu |309| ihrer aller Wohl eine so beschwerliche und gefahrvolle Reise auf sich nahm. Andere tuschelten hinter vorgehaltener Hand, daß
Rabanus nur deshalb so hastig abreise, um sich vor der Pest in Sicherheit zu bringen.
Johanna hatte keine Zeit, sich mit solchen Angelegenheiten zu beschäftigen. Sie war vom ersten Morgengrauen bis in den späten
Abend damit beschäftigt, die Messen zu lesen, die Beichten abzunehmen und wegen der rasch um sich greifenden Krankheit immer
öfter die Sterbesakramente zu erteilen.
Eines morgens fiel ihr auf, daß Bruder Benjamin bei den Vigilien nicht an seinem Platz saß. In Johanna stieg eine düstere
Ahnung auf, denn Benjamin, diese fromme Seele, hatte noch nie eine der Messen verpaßt. Kaum war der Gottesdienst zu Ende,
eilte Johanna ins Spital. Als sie die lange, rechteckige Krankenstation betrat, stieg ihr der stechende Geruch von Knöterich
und Senf in die Nase, beides bewährte Heilmittel bei Erkrankungen der Lunge.
Das Spital war hoffnungslos überfüllt; die Betten und Pritschen, allesamt von Kranken belegt, standen Seite an Seite und ließen
den Helfern kaum noch Bewegungsfreiheit. Die Brüder, die ihr
opus manuum,
die Handarbeit, im Spital verrichten mußten, gingen von einem Lager zum anderen, strichen die Decken glatt, boten den Kranken
Wasser an und beteten leise an den Betten derjenigen, für die keine Hoffnung mehr bestand.
In einem der Betten saß Benjamin und erklärte Bruder Deodatus, einem der jüngeren Mönche, wie man ein Senfpflaster anbrachte.
Als Johanna dem alten Arzt zuhörte, mußte sie an jenen längst vergangenen Tag denken, da Benjamin sie dieselbe Fertigkeit
gelehrt hatte.
Johanna lächelte wehmütig, als sie sich daran erinnerte. Zugleich fiel ihr ein Stein vom Herzen. Solange Bruder Benjamin Anweisungen
erteilen konnte, was die Behandlung der Kranken im Spital betraf, konnte es nicht so schlecht um ihn bestellt sein.
Ein plötzlicher Hustenanfall unterbrach den Wortschwall, mit dem Benjamin den jungen Deodatus überschüttete. Johanna eilte
an das Bett des alten Mannes. Sie tauchte ein Tuch in eine Schüssel Wasser, die neben dem Krankenlager stand, und wischte
damit sanft Benjamins Stirn ab. Seine Haut fühlte sich unglaublich heiß an.
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Benedicte! Wie konnte er mit so hohem Fieber noch so lebhaft und klar bei Verstand sein?
Schließlich endete der Hustenanfall, und Benjamin lag mit geschlossenen Augen da und atmete rasselnd. Sein ergrauender Haarkranz
lag wie ein verblaßter Heiligenschein um seinen Kopf. Seine Hände – diese breiten, kräftigen Hände eines Bauern, die eine
so unglaubliche Geschicklichkeit und Sanftheit besaßen – lagen jetzt so schlaff und hilflos wie die eines kleinen Kindes auf
der Decke. Der Anblick gab Johanna einen Stich ins Herz.
Bruder Benjamin schlug die Augen auf, sah Johanna und lächelte.
»Du bist gekommen«, sagte er mit heiserer Stimme. »Gut. Wie du siehst, brauche ich deine Dienste.«
»Ja, gewiß«, erwiderte Johanna fröhlicher, als ihr zumute war. »Die richtige Medizin, und Ihr seid bald wieder gesund.«
Benjamin schüttelte den Kopf. »Ich brauche deine Dienste als Priester, nicht als Arzt. Du mußt mir helfen, in die andere Welt
hinüberzugehen, kleiner Bruder, denn in dieser Welt ist meine Arbeit getan.«
Johanna nahm seine Hand. »Ohne Kampf werde ich Euch nicht gehen lassen.«
»Du hast alles gelernt, was ich dich lehren konnte. Jetzt mußt du auch lernen, dich ins Unabänderliche zu fügen.«
»Ich werde es nicht hinnehmen, Euch zu verlieren!« erwiderte Johanna heftig. Seit jenem Tag vor zwölf Jahren, als Benjamin
sie unter seine Fittiche genommen hatte, war er ihr Freund und Mentor gewesen. Selbst als die priesterlichen Pflichten es
Johanna zeitlich nicht mehr erlaubt hatten, das Spital zu besuchen, hatte Benjamin ihr weiterhin geholfen, hatte sie
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