Die Päpstin
anderes Lumpenpack von den Straßen und Wegen herbeigelockt, die
ihre gewohnten Jagdgründe waren; denn die Toten waren eine leichtere Beute als die Lebenden. In der Dunkelheit huschten die
Strolche wie Ratten über das Schlachtfeld und raubten den Gefallenen die Kleidung, die Rüstungen, die Waffen, die Ringe –
alles, was von Wert war.
In Gerolds Nähe sagte eine Stimme: »Hier lebt noch einer!«
Das dumpfe Geräusch eines Schlages ertönte – und dann ein Schrei, der abrupt verstummte.
»Falls es noch mehr Überlebende gibt«, sagte eine andere Stimme, »dann macht es mit denen genauso. Wir können keine Zeugen
gebrauchen, die uns hinterherschnüffeln, wenn sie am Leben bleiben.«
In wenigen Augenblicken würden die Plünderer Gerold erreicht haben. Für einen Moment stand er schwankend da; dann flüchtete
er so leise er konnte in die Dunkelheit des Waldes, wobei er sich stets in den tiefen Schatten hielt.
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|307| 18.
Die Mönche im Kloster zu Fulda blieben von den Folgen des kriegerischen Streits der königlichen Brüder weitgehend verschont.
Wie ein schwerer Stein, den man in einen Teich schleudert, warf die Schlacht von Fontenoy hohe Wellen in den Machtzentren
des Kaiserreiches. Doch hier, in den östlichen Grenzmarken, erregte sie nur ein leichtes Kräuseln an der Oberfläche. Natürlich
hatten einige der großen Grundbesitzer dieser Region sich König Ludwigs Heer angeschlossen; nach dem Gesetz mußte jeder Freie,
der mehr als vier Hufen Land besaß, dem Ruf zum Waffendienst folgen. Doch Ludwigs rascher und deutlicher Sieg hatte zur Folge,
daß nur zwei Männer aus der Gegend um Fulda auf dem Schlachtfeld von Fontenoy blieben; die anderen kehrten sicher und wohlbehalten
nach Hause zurück.
Die Tage zogen ins Land wie zuvor; einer nach dem anderen verging in steter Gleichförmigkeit, verwoben mit dem stillen, unveränderlichen
und friedlichen Klosterleben. Mehrere aufeinanderfolgende, ertragreiche Ernten hatten Jahre des unerwarteten Überflusses zur
Folge. Die Kornspeicher des Klosters waren bis zum Bersten gefüllt; selbst die mageren, sehnigen austrasischen Schweine wurden
fett vom guten und reichlichen Futter.
Dann, urplötzlich, brach die Katastrophe herein. Wochenlang anhaltender Regen vernichtete die Frühjahrssaat. Der Boden war
zu naß, als daß man die kleinen Furchen hätte graben können, die für das Anpflanzen erforderlich waren; das Saatgut verrottete
in der Erde. Das schlimmste aber war, daß die durchdringende Feuchtigkeit auch das Getreide in den Speichern faulen ließ und
die Vorräte verdarb, die man in den fetten Jahren gesammelt hatte.
Die Hungersnot im darauffolgenden Winter war die schrecklichste seit Menschengedenken. Zum Entsetzen der Kirche |308| gab es sogar Fälle von Kannibalismus. Die Straßen und Wege wurden gefährlicher als je zuvor; denn Reisende wurden nicht nur
ihrer Besitztümer wegen ermordet, sondern auch wegen des Fleisches, das ihre Körper lieferten. Nach einer öffentlichen Hinrichtung
in Lorsch riß der hungernde Pöbel sogar die Galgen nieder und prügelte sich um die noch warmen Leichen der Gehängten.
Vom Hunger geschwächt, wurden die Menschen zur leichten Beute von Krankheiten. Tausende fielen der Lungenpest zum Opfer. Die
Symptome waren stets die gleichen; vor allem das wütende Fieber, das diese Krankheit begleitete, raffte die Menschen wie die
Fliegen dahin. Für die Erkrankten konnte man nur wenig tun; man konnte ihnen allenfalls Linderung verschaffen, indem man sie
entkleidete und in kalte Tücher wickelte, um die Körpertemperatur niedrig zu halten. Falls die Kranken das Fieber überstanden,
hatten sie eine Chance, wieder gesund zu werden. Doch nur wenige überlebten das Fieber.
Ebensowenig vermochten die Klostermauern den Mönchen Schutz vor der Pest zu bieten. Der erste Bruder, der erkrankte, war Samuel,
der
hospitarius,
dessen Amt häufige Kontakte zur Außenwelt mit sich brachte. Binnen zweier Tage war er tot. Abt Rabanus führte Samuels Schicksal
auf seine weltliche Gesinnung und seine übertriebene Vorliebe für Scherze und Späße zurück; fleischliche Beschwerden, versicherte
Rabanus, seien nichts anderes als äußerliche Manifestationen moralischen und geistigen Verfalls. Dann erkrankte Bruder Aldoardus,
der von allen als die Verkörperung mönchischer Tugenden und Frömmigkeit betrachtet wurde; die nächsten waren Bruder Hildwin,
der Sakristan, und mehrere andere.
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