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Die Päpstin

Titel: Die Päpstin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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raschen, furchtsamen Blick auf ihren Mann. »Was hast du getan, Kind?« Sie
     kniete sich neben Johanna nieder und entdeckte die Prellung unter dem rechten Auge, die rasch anschwoll. Gudrun achtete darauf,
     daß ihr Körper sich schützend zwischen Johanna und ihrem Mann befand. »Was habe ich dir gesagt?« flüsterte sie. »Du dummes
     Mädchen. Sieh nur, was du getan hast!« Dann fügte sie mit kräftigerer Stimme hinzu: »Geh zu deinem Bruder. Er braucht dich.«
     Sie half Johanna auf und drängte sie rasch hinaus.
    Der Dorfpriester beobachtete seine Tochter mit düsteren Blicken, als sie zur Tür ging.
    »Denk nicht mehr an das Mädchen, mein Gemahl«, sagte Gudrun beschwichtigend. »Sie ist unwichtig. Und gib dich nicht der Verzweiflung
     hin, denn du hast noch einen anderen Sohn.«

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    |42| 3.
    Es war im Aranmanoth, dem Monat der Getreideernte, im Spätsommer ihres neunten Lebensjahres, als Johanna zum erstenmal Aeskulapius
     begegnete. Auf dem Weg nach Mainz, wo er an der dortigen
scola
, der Domschule, eine Stelle als Lehrmeister antreten sollte, hatte er am Grubenhaus des Dorfpriesters von Ingelheim eine
     Rast eingelegt.
    »Seid willkommen, Herr, seid willkommen!« begrüßte Johannas Vater den Gast hocherfreut. »Wir danken Gott, daß Ihr sicher und
     wohlbehalten eingetroffen seid. Ich hoffe, die Reise war nicht zu anstrengend.« Er verbeugte sich dienstbeflissen und führte
     Aeskulapius durch die Tür. »Kommt herein und erfrischt Euch. Gudrun! Bring Wein! Mit Eurem Besuch erweist Ihr uns und unserem
     bescheidenen Heim eine große Ehre, Herr.« Dem Gebaren ihres Vaters konnte Johanna entnehmen, daß Aeskulapius ein Gelehrter
     von beträchtlichem Ansehen und Rang sein mußte.
    Er war Grieche und nach byzantinischer Mode gekleidet. Sein
chlamys
aus feinem weißen Leinen besaß als Verschluß eine schlichte Brosche aus Metall; darüber trug er einen langen blauen Umhang
     mit silbernem Saum. Sein eingeöltes Haar war kurz geschnitten wie bei einem Bauern und straff nach hinten aus der Stirn gekämmt.
     Und anders als Johannas Vater, der seinen Bart gestutzt, nach Art der fränkischen Kirchenleute trug, hatte Aeskulapius einen
     langen Vollbart, der so weiß war wie sein Haar.
    Als der Vater nach Johanna rief, den Ankömmling zu begrüßen, erlebte sie eine Anwandlung von Schüchternheit. Verlegen stand
     sie vor dem fremden Mann und hielt den Blick gesenkt, starr auf das komplizierte Flechtwerk seiner Sandalen gerichtet. Dann,
     endlich, hatte der Dorfpriester ein Nachsehen und schickte Johanna hinaus, ihrer Mutter bei der Zubereitung des Abendessens
     zu helfen.
    |43| Als sich später alle an den Tisch im Wohnraum setzten, sagte der Dorfpriester zu Aeskulapius: »Wir haben die Gewohnheit, aus
     der Bibel zu lesen, bevor wir die Mahlzeiten einnehmen. Würdet Ihr uns die Ehre erweisen und heute Abend den Segensspruch
     vortragen?«
    »Aber gewiß«, sagte Aeskulapius lächelnd. Behutsam schlug er das holzgebundene Buch auf und blätterte vorsichtig die brüchigen,
     pergamentenen Seiten um. »Der Text stammt von Ecclesiastes.
›Omnia tempus habent, et momentum suum cuique negotio sub caelo …‹«
    Nie zuvor hatte Johanna jemanden so wunderschön Latein reden hören. Aeskulapius’ Aussprache war ungewöhnlich: Er reihte die
     Worte nicht aneinander, wie es bei der gallischen Sprechweise üblich war; statt dessen war bei ihm jedes einzelne Wort rund
     und betont, wie ein Tropfen klaren Regenwassers. »Denn für alles gibt es eine Jahreszeit, und unter Gottes Himmel hat jedes
     Ding auf Erden seine Zeit. Es gibt eine Zeit des Gebärens; eine Zeit des Sterbens; eine Zeit des Pflanzens und eine Zeit zu
     pflücken, was gepflanzt worden ist; es gibt eine Zeit zu töten, und eine Zeit zu heilen; eine Zeit des Niederreißens, und
     eine Zeit des Aufbaus.« Johanna hatte ihren Vater diesen Absatz viele Male lesen hören, doch bei Aeskulapius hörte sie eine
     Schönheit heraus, die sie nie zuvor darin vermutet hätte.
    Als er geendet hatte, schlug Aeskulapius das Buch zu. »Ein prächtiger Band«, sagte er anerkennend zum Dorfpriester. »Von kunstvoller
     Hand geschrieben. Ihr müßt ihn aus England mitgebracht haben; wie mir gesagt wurde, blühen dort noch die Künste der Buchmacherei.
     Heutzutage findet man nur noch selten eine Handschrift, die so frei von grammatischen Sprachwidrigkeiten ist.«
    Der Dorfpriester errötete vor Freude. »In der Bibliothek zu Lindisfarne gab es viele solcher Bände.

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