Die Päpstin
erzählte sie ihm von den Prügeln, die der Vater ihr einst verabreicht hatte, als sie sich an jenem längst
vergangenen Tag geweigert hatte, Aeskulapius’ Buch zu vernichten.
Gerold sagte nichts, doch die Muskeln an seinem Kiefer spannten sich. Er beugte sich zu Johanna hinüber und küßte jede der
gezackten Narben.
Im Laufe der Jahre hatte Johanna sich selbst gelehrt, ihre Gefühle jederzeit zu beherrschen, sich Schmerzen zu verbeißen und
nicht zu weinen. Nun aber strömten ihr die lange aufgestauten Tränen über die Wangen.
Gerold hielt sie fest und murmelte ihr zärtliche Worte ins Ohr, bis der Tränenstrom versiegte. Dann spürte Johanna seine Lippen
auf den ihren; sie bewegten sich so sanft und behutsam, daß ihr Inneres von Wärme und aufkeimender Leidenschaft erfüllt wurde.
Sie erwiderte seine Umarmung und schloß die Augen, genoß den süßen, berauschenden dunklen Wein ihrer Sinne und ließ sich bereitwillig
von ihrem Verlangen fortreißen.
|507|
Lieber Gott!
dachte sie benommen.
Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht!
War sie all die Jahre
davor
geflüchtet? Hatte ihre Mutter sie einst
davor
gewarnt? Aber das war kein Sich-Aufgeben, sondern eine wundersame und wunderschöne Erweiterung des Selbst – ein Gebet, das
nicht mit Worten, sondern mit den Augen und den Händen, mit den Lippen und der Haut gesprochen wurde.
»Ich liebe dich!« rief Johanna im Augenblick der Ekstase, und die Worte waren keine Entweihung, sondern ein Sakrament.
In der Großen Halle des Patriarchums wartete Arsenius mit den
optimates
und den Mitgliedern des hohen Klerus von Rom auf Neuigkeiten. Zuerst hatte Arsenius kaum glauben wollen, was er über Papst
Johannes erfahren hatte. Aber was konnte man schon von einem Ausländer anderes erwarten – noch dazu von einem Menschen niederen
Standes?
Raduin, der stellvertretende Befehlshaber der päpstlichen Garde, kam in die Halle.
»Was gibt es Neues?« fragte
primicerius
Paschal ihn ungeduldig.
»Es ist uns gelungen, eine große Anzahl von Einwohnern zu retten«, berichtete Raduin. »Aber ich fürchte, Seine Heiligkeit
ist verloren.«
»Verloren?« wiederholte Paschal stirnrunzelnd. »Was meint Ihr damit?«
»Er war zusammen mit dem
superista
auf einem der Boote. Wir dachten, sie würden uns folgen, aber sie müssen noch einmal umgedreht haben, um einen weiteren Überlebenden
zu retten. Kurz darauf stürzte das Tor von Sankt Agatha ein, und eine riesige Flutwelle ist mit schrecklicher Wucht über die
Gegend hinweggetobt.«
Diese Nachricht wurde von den Würdenträgern mit Schreien des Entsetzens aufgenommen. Einige Prälaten bekreuzigten sich.
»Besteht die Möglichkeit, daß sie überlebt haben?« fragte Arsenius.
»Nein«, erwiderte Raduin. »Die Flutwelle war so gewaltig, daß sie in weitem Umkreis alles verschlungen hat.«
»Gott sei ihren Seelen gnädig«, sagte Arsenius ernst und mußte alle Kraft aufbieten, sich das Hochgefühl nicht anmerken zu
lassen, das sich in seinem Innern ausbreitete.
|508| »Soll ich den Befehl erteilen, die Trauerglocken zu läuten?« fragte Eustathius, der Erzpriester.
»Nein«, entgegnete
primicerius
Paschal. »Wir dürfen nichts überstürzen. Schließlich ist Papst Johannes der Stellvertreter Christi auf Erden. Gott könnte
ein Wunder gewirkt haben, um ihn zu retten.«
»Sollten wir dann nicht umkehren und nach ihm suchen?« schlug Arsenius vor. Natürlich hatte er nicht das geringste Interesse
daran, daß Johannes gerettet wurde; aber er wollte sich Gewißheit verschaffen, ob der Papstthron tatsächlich wieder frei geworden
war.
»Der Einsturz des nördlichen Tores hat die ganze Gegend unzugänglich gemacht«, erwiderte Raduin. »Wir können erst wieder etwas
unternehmen, wenn das Hochwasser gefallen ist.«
»Dann laßt uns beten«, sagte Paschal. »
Deus misereatur …«
Die anderen senkten die Köpfe und fielen ein.
Arsenius sprach die Worte rein mechanisch; seine Gedanken beschäftigten sich mit ganz anderen Dingen. Falls Johannes tatsächlich
ertrunken war – und alles sprach dafür –, hatte Anastasius eine zweite Chance auf den Papstthron. Aber diesmal, dachte Arsenius
entschlossen, darf bei der Wahl nichts schiefgehen. Diesmal werde ich all meine Macht einsetzen, um dafür zu sorgen, daß mein
Sohn der neue Papst wird.
»… et Dominus. Amen.«
»Amen«, murmelte Arsenius. Er konnte es kaum erwarten, welche Neuigkeiten der nächste Tag bringen würde.
Johanna
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