Die Päpstin
erwachte am frühen Morgen. Sie lächelte, als sie Gerold neben sich schlafen sah, und ließ den Blick auf seinem schmalen,
markanten Gesicht verweilen. Es besaß noch immer dieselbe männliche Schönheit wie an dem Tag, als sie dieses Gesicht zum erstenmal
gesehen hatte – hinter dem Bankettisch in einem Bischofspalast, vor achtundzwanzig Jahren.
Wußte ich es damals schon,
fragte sie sich,
schon in diesem allerersten Augenblick? Wußte ich, daß ich ihn liebe? Ich glaube, ja.
Endlich hatte sie akzeptiert, wogegen sie sich so lange Zeit gewehrt hatte: Gerold war ein Teil von ihr; auf eine unergründliche
Art und Weise, die Johanna nicht erklären, aber auch nicht leugnen konnte,
war
er sie selbst. Sie waren Zwillingsseelen, für immer und untrennbar verbunden; zwei Hälften |509| eines vollkommenen Ganzen, das ohne den anderen nie mehr vollständig sein würde.
Johanna erlaubte sich nicht, zu lange bei der gewaltigen Bedeutungsvielfalt dieser wundersamen Entdeckung zu verweilen. Es
genügte, für den Augenblick zu leben, für
diesen
Augenblick – für das vollkommene Glück, hier und jetzt mit Gerold zusammensein zu können. Die Zukunft existierte jetzt nicht.
Er lag auf der Seite, den Kopf nahe dem ihren, die Lippen leicht geöffnet, das lange rote Haar zerzaust in der Stirn. Im Schlaf
sah er verletzlich und jung aus, beinahe jungenhaft. Von einem Gefühl unaussprechlicher Zärtlichkeit erfüllt, streckte Johanna
die Hand aus und strich ihm sanft eine gelockte Haarsträhne von der Wange.
Gerold schlug die Augen auf und schaute Johanna mit einem Ausdruck so tiefer Liebe und so glühenden Verlangens an, daß es
ihr den Atem verschlug. Wortlos streckte er die Hände nach ihr aus, und bereitwillig gab sie sich seiner Umarmung hin.
Johanna erwachte schlagartig, als sie ein fremdes Geräusch vernahm. Regungslos blieb sie in Gerolds Armen liegen und lauschte
angespannt. Alles war still. Dann wurde ihr klar, daß sie nicht von einem Geräusch geweckt worden war, sondern von der Stille
– vom plötzlichen
Fehlen
der Geräusche des trommelnden Regens und des heulenden Windes.
Das Unwetter war vorüber.
Johanna erhob sich und ging zum Fenster. Der Himmel war grau und bewölkt, doch zum erstenmal seit mehr als zehn Tagen zeigten
sich Flecken blauen Himmels am Horizont, und Speere aus Sonnenlicht stachen durch die dichten Wolken.
Gelobt sei Gott der Herr,
dachte Johanna.
Jetzt haben Flut und Hochwasser bald ein Ende.
Gerold erschien hinter ihr und legte die Arme um sie. Sie lehnte sich zurück an seine Brust. Wärme und Liebe durchströmten
ihr Inneres.
»Wird man bald nach uns suchen? Was meinst du?« fragte sie.
»Sehr bald – jetzt, wo der Regen aufgehört hat.«
»Ach, Gerold.« Sie barg den Kopf an seiner Schulter. »Ich bin nie im Leben so glücklich gewesen – und so unglücklich.«
»Ich weiß, mein Schatz.«
|510| »Wir können nie wieder zusammensein. Jedenfalls nicht … so.«
Er streichelte ihr helles Haar. »Wir bräuchten nicht wieder zurück, weißt du.«
Sie schaute ihn erstaunt an. »Wie meinst du das?«
»Niemand weiß, daß wir hier sind. Falls wir den Rettungsbooten kein Zeichen geben, sobald sie erscheinen, werden sie wieder
fortrudern. In zwei, drei Tagen, wenn das Hochwasser zurückgegangen ist, könnten wir uns bei Nacht unbemerkt aus der Stadt
schleichen. Niemand wird uns folgen, denn alle werden davon ausgehen, daß wir in der Flutwelle ertrunken sind. Wir würden
frei und ungebunden sein … und wir wären zusammen.«
Johanna antwortete nicht; statt dessen schaute sie wieder aus dem Fenster.
Er wußte, daß er nie wieder größere Macht über sie haben würde als in diesem Augenblick. Falls er diese Macht einsetzte, falls
er Johanna in die Arme nahm und sie küßte, würde sie vermutlich zustimmen und mit ihm fortgehen. Aber das wäre ihr gegenüber
nicht recht gewesen. Selbst wenn sie einwilligte, wäre ihre gemeinsame Zukunft wahrscheinlich nicht von Dauer. Und Gerold
wollte sie nicht zu etwas drängen, das sie hinterher vielleicht bereute. Sie mußte aus freien Stücken mit ihm kommen – oder
gar nicht.
Er wartete auf ihre Entscheidung, und sein Leben, sein Glück hingen in der Schwebe.
Nach einer Zeit, die Gerold wie eine Ewigkeit vorkam, drehte Johanna sich wieder zu ihm um. Und als er in die Tiefen ihrer
graugrünen Augen schaute, aus denen unendliche Traurigkeit sprach, wußte Gerold, daß er verloren hatte.
Leise sagte
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