Die Päpstin
Von dieser Stelle aus war es ein leichter Aufstieg, um bis auf trockenes
Gelände und in Sicherheit zu gelangen. Dann legte die Flotte wieder ab, um weitere Bewohner vom Campus Martius zu bergen.
Fahrt um Fahrt wurde unternommen. Die Retter waren bis auf die Haut durchnäßt; die Kleidung klebte ihnen am Körper, und die
Muskeln schmerzten vor Anstrengung und Müdigkeit. Dann, endlich, schienen sämtliche Bewohner des überfluteten Viertels in
Sicherheit zu sein. Die Boote waren wieder unterwegs zum kapitolinischen Hügel, als Johanna plötzlich eine Kinderstimme um
Hilfe schreien hörte. Sie drehte sich um und sah die Gestalt eines kleinen Jungen im Fenster einer
insula
. Vielleicht hatte er sich jetzt erst in das oberste Stockwerk vorgearbeitet, oder er war zu verängstigt gewesen, als daß
er sich ans Fenster gewagt hätte.
Johanna und Gerold schauten sich an. Ohne ein Wort wendete er das Boot, ruderte zu der Mietskaserne zurück und brachte das
Gefährt unter dem Fenster zum Stehen, aus dem der kleine Junge sich nun hinauslehnte. Gerold ruderte gegen die Strömung an,
um das Boot auf der Stelle zu halten.
|503| Johanna erhob sich und streckte die Arme aus.»Spring!« rief sie. »Los, spring! Ich fange dich auf!«
Doch der Junge blieb, wo er war. Mit weit aufgerissenen Augen, in denen nacktes Entsetzen stand, starrte er auf das schwankende
Boot hinunter.
Johanna blickte den Jungen zwingend an, winkte ihm mit den erhobenen Händen. »Nun spring endlich!« befahl sie.
Zaghaft setzte der Junge einen Fuß auf den Fenstersims.
Johanna griff nach ihm.
In diesem Augenblick ertönte ein ohrenbetäubendes Donnern. Das antike Posterula Sankt Agatha, das nördlichste Tor der Aurelianischen
Mauer, war unter dem Druck der immer noch steigenden Wassermassen eingestürzt. Mit einer Flutwelle von verheerender Kraft
brach der Tiber in die Stadt hinein.
Johanna sah das vom Fenster umrahmte Gesicht des Jungen; sein Mund formte ein winziges O des Entsetzens, als die gesamte
insula
in sich zusammenstürzte. Im selben Augenblick spürte Johanna, wie das Boot unter ihr sich hob und erzitterte, bevor es von
der heranrasenden Flutwelle gepackt und wild umhergeschleudert wurde.
Johanna schrie und hielt sich verzweifelt an den Seiten des zerbrechlichen Bootes fest, als es die Stromschnellen hinunter
raste und jeden Augenblick zu kentern drohte. Gischtend schoß das Wasser am Bootsrand in die Höhe und überspülte die Insassen;
Johanna hob den Kopf, rang keuchend nach Atem und erhaschte einen kurzen Blick auf Gerold, der am Bug kauerte.
Dann gab es einen fürchterlichen Ruck, als das Boot urplötzlich zum Stehen kam, wobei Johanna unsanft zu Boden geschleudert
wurde.
Eine Zeitlang lag sie benommen da und wußte gar nicht, was geschehen war. Als sie schließlich den Blick hob, sah sie Wände,
einen Tisch und Stühle.
Sie befand sich im Innern eines Gebäudes. Die gewaltige Kraft der Flutwelle hatte das kleine Boot geradewegs durch eines der
oberen Fenster einer
insula
ins dahinterliegende Zimmer geschleudert.
Johanna sah Gerold vor dem Boot liegen, das Gesicht im knöcheltiefen Wasser, das den Fußboden überschwemmt hatte. Sie kroch
zu ihm.
|504| Als sie ihn auf den Rücken drehte, zeigte er keine Reaktion. Sein Körper war schlaff, und er atmete nicht mehr. Johanna rollte
ihn auf den Bauch und begann, ihm auf den Rücken zu drücken, um das Wasser aus seinen Lungen zu pressen. Drücken, nachlassen
– drücken, nachlassen.
Er darf nicht sterben,
dachte sie verzweifelt.
Er darf nicht sterben!
So grausam konnte Gott doch nicht sein! Dann aber dachte sie an den todgeweihten Jungen in der
insula
und sagte sich: Gott ist zu allem fähig.
Drücken, nachlassen. Drücken, nachlassen.
Plötzlich hustete Gerold und spie einen großen Schwall Wasser aus.
Benedicte!
Er atmete wieder. Johanna untersuchte ihn sorgfältig. Keine offenen Wunden, keine gebrochenen Knochen. Doch dicht unter dem
Haaransatz, wo er einen wuchtigen Hieb an den Kopf erhalten hatte, befand sich eine große, schwarzblau verfärbte Schwellung.
Dieser Schlag mußte seine Ohnmacht hervorgerufen haben.
Jetzt müßte er das Bewußtsein bald wiedererlangen,
ging es Johanna durch den Kopf, während sie ihn betrachtete, doch Gerold blieb in tiefer Ohnmacht versunken. Seine Haut war
blaß und kalt; sein Atem ging flach, sein Puls war kaum zu spüren und ging dennoch gefährlich schnell.
Was ist mit ihm?
fragte Johanna sich
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