Die Päpstin
mein Kind. Ich kann leider kein Wort Sächsisch. Ich wünschte mir
allerdings, ich könnte es – jetzt, wo ich deine Mutter gesehen habe.« Er griff in einen Beutel, den er an den |96| Sattel gebunden hatte, und zog eine kandierte Dattel hervor. »Hier hast du etwas Süßes.«
Johanna starrte die Dattel an. Der Mann hatte kein Wort verstanden. Ein Mann im Dienst der Kirche, ein Gesandter des Bischofs,
und er beherrschte kein Latein. Wie war das möglich?
Dicht hinter Johanna erklangen die Schritte des Vaters. Dann legten seine Arme sich schmerzhaft um ihren Leib; sie wurde in
die Höhe gehoben und zum Haus zurückgetragen.
»Laß mich los!« schrie sie, doch die riesige Hand des Vaters legte sich auf ihre Nase und ihren Mund und drückte so fest zu,
daß sie keine Luft mehr bekam. Verzweifelt strampelte sie und wand sich. Im Innern der Hütte ließ der Dorfpriester sie los,
und Johanna fiel zu Boden und rang keuchend nach Atem. Der Dorfpriester hob die Fäuste.
»Nein!« Plötzlich stand Gudrun zwischen ihnen. »Du rührst sie nicht an.« In ihrer Stimme lag ein Klang, den Johanna nie zuvor
gehört hatte. »Oder ich erzähle die Wahrheit.«
Der Dorfpriester starrte sie ungläubig an. Johannes erschien im Türeingang; er trug einen Leinensack bei sich, in dem er seine
Habseligkeiten verstaut hatte.
Gudrun wies mit einer Kopfbewegung auf den Jungen. »Unser Sohn braucht deinen Segen für die Reise.«
Lange Zeit erwiderte der Dorfpriester Gudruns festen Blick. Dann, ganz langsam, wandte er das Gesicht dem Sohn zu.
»Knie nieder, Johannes.«
Der Junge gehorchte. Der Dorfpriester legte ihm die rechte Hand auf den gesenkten Kopf. »Herrgott im Himmel, der du einst
Abraham aufgerufen hast, sein Heim zu verlassen, und der du ihn beschützt hast auf allen seinen Wegen, in deine Hände legen
wir das Leben dieses Jungen.«
Ein dünner Streifen der Spätnachmittagssonne fiel durchs Fenster und ließ Johannes’ dunkles Haar in einem goldenen Schimmer
erstrahlen.
»Wir bitten dich, beschütze ihn und gib ihm alle Dinge, die seine Seele und sein Körper brauchen …« Die Stimme des Dorfpriesters
wurde zu einem monotonen Singsang, während er sein Gebet sprach.
Johannes hielt den Kopf gesenkt, hob jedoch die Augen und begegnete dem Blick seiner Schwester. Auf dem Gesicht des Jungen
lag ein verängstigter, ja, verzweifelter Ausdruck, und |97| das Flehen in seinen Augen sprach Bände.
Er möchte gar nicht gehen,
erkannte Johanna plötzlich. Natürlich! Weshalb hatte sie es nicht schon vorher gesehen?
Weil du keinen Augenblick an Johannes’ Gefühle gedacht hast,
gab sie sich selbst die Antwort.
Er hat Angst. Er kann den Anforderungen an einer Domschule nicht gerecht werden, und das weiß er.
Wenn ich doch nur mit ihm gehen könnte!
In ihrem Innern nahm ein wagemutiger Plan Gestalt an.
»… und wenn seines Lebens Pilgerreise vorüber ist«, beendete der Dorfpriester sein Gebet, »möge er wohlbehütet und sicher
im Himmelreich eintreffen, durch Christus unseren Herrn. Amen.«
Nach dem Segen erhob sich Johannes. Dumpf und schicksalergeben wie ein Opferlamm vor der Schlachtung ließ er die Umarmungen
seiner Mutter und die letzten Ermahnungen seines Vaters über sich ergehen. Doch als Johanna zu ihm kam und ihn umarmte, klammerte
er sich an sie und begann zu schluchzen.
»Hab keine Angst«, murmelte sie verschwörerisch.
»Das reicht«, sagte der Dorfpriester. Er legte seinem Sohn den rechten Arm um die Schulter und führte ihn zur Tür. »Paß auf,
daß das Mädchen drinnen bleibt«, befahl er Gudrun, und dann waren sie verschwunden. Die Tür schwang zu, und der Riegel schloß
sich mit einem dumpfen Knall.
Johanna rannte zum Fenster und schaute hinaus. Sie sah, wie Johannes hinter dem Gesandten des Bischofs aufs Pferd stieg; seine
schlichte Tunika aus Wolle bildete einen deutlichen Kontrast zum satten Rot des Umhangs, den der Fremde trug. Der Dorfpriester
stand in der Nähe; seine dunkle, untersetzte Gestalt zeichnete sich deutlich gegen das zarte, knospende Grün der frühlingshaften
Landschaft ab. Mit einem letzten Abschiedsruf ritten der Fremde und Johannes davon.
Johanna wandte sich vom Fenster ab. Gudrun stand in der Mitte des Zimmers und beobachtete sie.
»Kleine Wachtel …«, begann sie zögernd.
Johanna ging an ihr vorbei, als gäbe es sie gar nicht. Sie nahm ihr Strickzeug und setzte sich neben den Herd. Sie mußte nachdenken,
sich vorbereiten. Ihr blieb nicht
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