Die Päpstin
aber wir haben keine Zeit.
Wir müssen sofort aufbrechen, wenn wir den Treffpunkt mit meinen Kameraden noch vor Anbruch der Dunkelheit |94| erreichen wollen.« Unsicher ließ er den Blick von Johannes zu Johanna schweifen. Dann schaute er Gudrun an.
»Wer ist diese Frau?«
Der Dorfpriester räusperte sich. »Eine sächsische Heidin. Seit langer Zeit ringe ich darum, ihre Seele den Klauen ihrer Götzen
zu entreißen und der barmherzigen Hand Jesu Christi zuzuführen.«
Der Abgesandte des Bischofs schaute Gudrun in die blauen Augen, betrachtete ihre schlanke Gestalt und das weißgoldene Haar,
das unter ihrer weißen Leinenkappe hervorschaute. Er lächelte – ein breites, wissendes, häßliches Lächeln. Dann wandte er
sich direkt an sie.
»Seid Ihr die Mutter dieser Kinder?«
Gudrun nickte schweigend. Der Dorfpriester errötete.
»Was sagt Ihr denn zu dieser Sache? Möchte der Bischof den Jungen zu sich holen oder das Mädchen?«
»Respektloser Kerl!« Der Dorfpriester war außer sich vor Wut. »Ihr wagt es, das Wort eines ergebenen Dieners des Herrn anzuzweifeln?«
»Beruhigt Euch, heiliger Mann«, erwiderte der Fremde, wobei er eine besondere Betonung auf das Wort
heilig
legte. »Ich muß Euch offenbar an die Pflichten erinnern, die Ihr der Autorität schuldet, die
ich
vertrete.«
Der Dorfpriester starrte dem Abgesandten des Bischofs finster in die Augen, während sein Gesicht dunkelrot anlief.
Wieder wandte der Fremde sich an Gudrun. »Ist es nun der Junge, oder ist es das Mädchen?«
Johanna spürte, wie Gudrun die Arme fester um sie schloß und sie an sich zog. Eine lange Pause des Schweigens trat ein. Dann
hörte Johanna die Stimme der Mutter hinter sich, melodiös und wohlklingend und erfüllt von den breiten sächsischen Vokalen,
die Gudrun noch immer unverkennbar als Fremde kennzeichneten. »Es ist der Junge, den Ihr holen sollt«, sagte Gudrun. »Nehmt
ihn.«
»Mama!« Entsetzt über diesen unerwarteten Verrat, brachte Johanna nur diesen einen fassungslosen Aufschrei hervor.
Der Abgesandte des Bischofs nickte zufrieden. »Dann wäre die Sache ja geregelt.« Rasch ging er zur Tür und sagte über die
Schulter: »Ich muß mich um mein Pferd kümmern. Macht den Jungen so schnell wie möglich reisefertig.«
»Nein!« Johanna versuchte, den Gesandten aufzuhalten, |95| doch Gudrun hielt sie fest und flüsterte ihr auf Sächsisch zu: »Glaub mir, kleine Wachtel, es ist nur zu deinem Guten. Das
verspreche ich dir.«
»Nein!« rief Johanna und wollte sich aus der Umarmung Gudruns befreien. Es war alles eine Lüge. Aeskulapius hatte sein Versprechen
eingelöst und beim Bischof ein gutes Wort für
sie
eingelegt; da war Johanna sicher. Er hatte sie nicht vergessen; er hatte eine Möglichkeit gefunden, daß sie weitermachen konnte,
was sie gemeinsam begonnen hatten: das Streben nach Wissen. Es war nicht Johannes, der an die
scola
berufen wurde, sondern sie. Das alles war ein Irrtum!
»Nein!« Johanna wand sich mit aller Kraft, kam frei und rannte geradewegs zur Tür. Der Dorfpriester streckte die Hand nach
ihr aus, doch sie entkam ihm. Dann war sie draußen und rannte hinter dem Gesandten her, so schnell sie konnte. Hinter ihr,
in der Hütte, hörte sie ihren Vater schreien; dann erwiderte ihre Mutter irgend etwas mit erhobener Stimme, bevor sie in heftiges
Schluchzen ausbrach.
Johanna holte den Mann in dem Augenblick ein, als er zu seinem Pferd gelangte. Sie zerrte an seinem Umhang, und der Fremde
schaute sie an. Aus den Augenwinkeln sah Johanna, wie ihr Vater sich ihnen näherte.
Es blieb nicht mehr viel Zeit. Ihre Botschaft mußte überzeugend und unmißverständlich sein.
»Magna est veritas et praevalebit«
, sagte sie. Es war ein Zitat, das nur Personen kennen konnten, die mit den Schriften der Kirchenväter sehr gut vertraut waren.
»Groß ist die Wahrheit, und sie wird siegen.« Der Fremde war ein Mann des Bischofs, ein Mann der Kirche; er würde das Zitat
kennen und verstehen, was Johanna damit meinte. Und daß sie es kannte, daß sie Latein beherrschte, würde beweisen, daß der
Bischof
sie
als Schülerin in die
scola
berief.
»Lapsus calami non est«
, fuhr Johanna auf Latein fort. »Es ist kein Schreibfehler. Ich bin Johanna; ich bin diejenige, die Ihr sucht.«
Der Mann schaute sie freundlich an. »Hm? Was möchtest du mir sagen, meine Kleine? Ich wollte, ich könnte eure Sprache sprechen.«
Er streichelte sie unter dem Kinn. »Aber es tut mir leid,
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