Die Päpstin
viel Zeit, und alles mußte sehr sorgfältig durchdacht sein.
Es würde schwierig werden, wahrscheinlich sogar lebensgefährlich. Der Gedanke ängstigte Johanna; aber es spielte |98| keine Rolle. Mit einer Gewißheit, die wunderbar und erschreckend zugleich war, wußte sie, was sie zu tun hatte.
Das ist nicht gerecht,
ging es Johannes durch den Kopf. Mürrisch saß er hinter dem Abgesandten des Bischofs auf dem Pferderücken und starrte düster
die bischöflichen Insignien auf dem tiefroten Umhang des Mannes an.
Ich möchte nicht auf die Domschule.
Johannes haßte den Vater, daß er ihn dazu gezwungen hatte. Er griff in seine Tunika und suchte nach dem Gegenstand, den er
heimlich in dem Kleidungsstück versteckt hatte, bevor er das Haus verließ. Seine Finger berührten den glatten Griff des Messers
– Vaters Jagdmesser mit dem Hirschhorngriff, eines seiner Schätze.
Ein kaum merkliches, rachsüchtiges Lächeln umspielte Johannes’ Lippen. Vater würde vor Wut toben, wenn er entdeckte, daß sein
Messer verschwunden war. Egal. Bis dahin würde er, Johannes, schon viele Meilen von Ingelheim entfernt sein, und sein Vater
konnte nichts dagegen tun. Es war nur ein kleiner Triumph; doch in seiner Not und der Trostlosigkeit seiner Lage klammerte
Johannes sich verzweifelt daran fest.
Warum hat er Johanna nicht geschickt?
fragte der Junge sich voller Zorn, und bittere Vorwürfe stiegen in ihm auf.
Es ist alles ihre Schuld!
sagte er sich. Johannas wegen hatte er, ihr älterer Bruder, damals schon mehr als zwei Jahre lang den Unterricht Aeskulapius’
mitmachen müssen, dieses strengen alten Mannes, der so versessen auf die klassische Bildung war. Und nun – als hätte das noch
nicht gereicht –, wurde er an
Johannas
Stelle auf die Domschule nach Dorstadt geschickt. O ja, der Bischof hatte sie an die Schule rufen lassen; da gab es für Johannes
gar keinen Zweifel. Es
mußte
Johanna sein.
Sie
war die klügere;
sie
beherrschte Griechisch und Latein;
sie
konnte die Werke des Augustinus lesen, während er noch nicht einmal das Buch der Psalmen gemeistert hatte.
Das alles hätte er ihr verzeihen können – und noch einiges mehr. Schließlich war sie seine Schwester. Aber eins konnte er
Johanna nicht vergeben: Sie war der Liebling der Mutter. Johannes hatte die beiden oft genug belauscht, wenn sie auf Sächsisch
tuschelten, wenn sie sangen und lachten und scherzten, um dann schlagartig zu verstummen und ernst zu werden, sobald er das
Zimmer betrat. Sie glaubten, er hätte sie nie gehört; aber da irrten sie sich.
|99| Mit ihm, Johannes, hatte die Mutter nie Sächsisch gesprochen.
Warum nicht?
fragte er sich wohl zum tausendsten Mal voller Bitterkeit.
Glaubt sie, ich würde es Vater erzählen? Das würde ich niemals tun – für nichts auf der Welt, egal, was er mit mir anstellt;
nicht einmal, wenn er mich schlagen würde.
Es ist nicht gerecht,
dachte er noch einmal.
Warum zieht Mutter Johanna mir vor? Ich bin ihr Sohn, und wie jedermann weiß, ist ein Sohn viel mehr wert als eine nutzlose
Tochter.
Zumal Johanna selbst für ein Mädchen geradezu eine Schande war. Sie war eine schreckliche Näherin, die nur halb so gut stricken
und sticken und weben konnte wie andere Mädchen in ihrem Alter. Und dann war da ihre Leidenschaft fürs Bücherwissen. Als Mädchen!
So etwas war wider die Natur, wie jedermann wußte. Selbst Mutter erkannte, daß da irgend etwas nicht in Ordnung war. Die anderen
Kinder im Dorf machten sich ständig über Johanna lustig. Es war peinlich, sie als Schwester zu haben. Wäre es Johannes möglich
gewesen, hätte er mit Freuden auf seine Schwester verzichtet.
Kaum hatte er diesen Gedanken vollendet, verspürte er leichte Gewissensbisse. Johanna war immer lieb und nett zu ihm gewesen,
war für ihn eingetreten, wenn Vater wütend gewesen war, ja, sie hatte sogar seine Arbeit übernommen, wenn er irgend etwas
nicht begriffen hatte. Und er war dankbar für Johannas Hilfe gewesen – sie hatte ihn oft genug vor einer Tracht Prügel bewahrt
–; aber gleichzeitig ärgerte er sich darüber. Es war demütigend. Schließlich war er der ältere Bruder.
Er
war derjenige, der sich um sie hätte kümmern und ihr helfen müssen, nicht umgekehrt.
Und nun saß er Johannas wegen hinter diesem fremden Mann und ritt an einen Ort, den er nicht kannte, und in ein Leben, das
er nicht wollte. Er stellte sich sein Leben an der Domschule vor … den ganzen Tag in irgendeinem
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