Die Päpstin
Unwesen trieben. Sie zog sich ihren Umhang aus grober
grauer Hanffaser enger um den Körper und glitt in die Schatten. Dann suchte sie die im Wechselspiel von silbernem Mondlicht
und tiefer Schwärze veränderte Landschaft nach dem Beginn des Weges ab, der durch den Wald führte. Das Licht war hell – es
war eine sternklare Nacht, und in zwei Tagen war Vollmond –, so daß Johanna schon nach wenigen Augenblicken die alte Buche
erkennen konnte, die ein Blitz gespalten hatte. An dieser Stelle begann der Weg. Rasch rannte sie über die Wiese dorthin.
Am Waldrand blieb Johanna stehen. Zwischen den Bäumen war es stockfinster; nur hier und da sickerten silberne Strahlen Mondlicht
zwischen den Ästen und Zweigen hindurch und bildeten ein blasses Geflecht auf dem Boden des Waldes. Johanna schaute zum Grubenhaus
zurück. In helles Mondlicht getaucht und umgeben von den Wiesen und Viehpferchen, |104| sah es fest und warm und vertraut aus. Johanna dachte an ihr gemütliches Bett und an die Decken, die vermutlich noch warm
von ihrem Körper waren. Sie dachte an ihre Mutter, der sie nicht einmal auf Wiedersehen gesagt hatte. Sie machte einen Schritt
auf das Haus zu, ihr Zuhause; dann hielt sie inne. Alles, was zählte, alles, was sie wollte, lag in der anderen Richtung.
Sie drang in den Wald ein. Die Bäume schlossen sich über ihrem Kopf. Der Weg war mit Felsbrocken und Gestrüpp übersät, doch
Johanna bewegte sich rasch voran. Bis zum Treffpunkt der Bischofsgesandten waren es noch über
fünfzehn Meilen,
und sie wollte vor Anbruch der Morgendämmerung dort sein.
Johanna konzentrierte sich darauf, eine gleichmäßige Geschwindigkeit beizubehalten. Es war nicht leicht; denn in der Dunkelheit
geriet sie schnell an den Wegrand, wo Äste und Sträucher an ihrer Kleidung und in ihrem Haar zerrten. Der Weg wurde zunehmend
unebener. Mehrmals trat sie auf Felsstücke oder Wurzeln, die aus dem Boden ragten. Einmal stürzte sie und scheuerte sich Hände
und Knie auf.
Nach mehreren Stunden begann der Himmel sich über dem Dach aus Bäumen allmählich aufzuhellen. Die Morgendämmerung brach an.
Johanna war erschöpft, doch sie schritt noch schneller aus; halb ging sie, halb rannte sie über den Waldweg. Sie
mußte
ihr Ziel erreichen, bevor die Männer des Bischofs mit Johannes aufbrachen. Sie
mußte
es einfach schaffen.
Plötzlich verhakte sich ihr Fuß an irgend etwas. Johanna geriet ins Taumeln und versuchte, das Gleichgewicht zu wahren, doch
sie war zu schnell gelaufen und fiel zu Boden, wobei sie den Sturz unbeholfen mit den Armen abfing.
Dann lag sie regungslos da. Der harte Aufprall hatte ihr für einen Augenblick den Atem geraubt, und ihr rechter Arm schmerzte,
wo ein scharfer Zweig ihn zerkratzt hatte; ansonsten aber schien sie unverletzt zu sein. Sie stemmte sich auf in eine sitzende
Haltung.
Neben ihr lag ein Mann. Er hatte ihr den Rücken zugekehrt. Schlief der Fremde? Nein. Dann wäre er aufgewacht, als Johanna
über seinen Körper gestolpert war. Sie berührte den Mann an der Schulter, und er rollte auf den Rücken. Der Mann war kein
vollkommen Fremder. Es war der Abgesandte des Bischofs. |105| Der Blick aus seinen erloschenen Augen ruhte starr auf Johannas Gesicht; der Mund des Toten stand weit offen, und das Gesicht
war zu einer Grimasse des Grauens verzerrt. Sein prächtiger Umhang war zerfetzt und blutig. Der Mittelfinger seiner linken
Hand fehlte.
Johanna sprang auf. »Johannes!« rief sie und ließ den Blick über den umliegenden Waldrand und den Erdboden schweifen. Sie
hatte schreckliche Angst davor, was sie erblicken
könnte
.
»Hier.« In der Dunkelheit war schwach ein Flecken blasser Haut zu sehen.
»Johannes!« Sie rannte zu ihm und umarmte ihn. Eine Zeitlang standen die Geschwister schweigend da, hielten einander fest.
»Warum bist du hier?« fragte Johannes schließlich. »Ist Vater mit dir gekommen?«
»Nein. Ich erkläre es dir später. Bist du verletzt? Was ist geschehen?«
»Wir wurden angegriffen. Von einem Wegelagerer. Ich glaube, er hatte es auf den goldenen Ring des Bischofsgesandten abgesehen.
Ich saß hinter ihm, als der Pfeil ihn traf.«
Johanna sagte nichts, hielt den Bruder nur noch fester umklammert.
Er machte sich aus ihren Armen frei. »Aber ich habe mich selbst verteidigt. Jawohl, das hab’ ich!« In seinen Augen funkelte
eine seltsame Erregung. »Als der Kerl mich packen wollte, da habe ich ihm dies hier gegeben!« Er hielt das
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