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Die Päpstin

Titel: Die Päpstin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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seltsame Laune der Natur – männlich, was ihren Verstand
     betraf und weiblich, was den Körper anging; deshalb zählte sie weder so recht zu den Mädchen noch zu den Jungen. Es war, als
     würde sie einem dritten, formlosen und unbestimmten Geschlecht angehören.
    Sie war allein. Sie hatte niemanden. Ausgenommen Gerold, natürlich. Aber Gerold genügte. Johanna war schon glücklich, wenn
     sie nur in seiner Nähe war, mit ihm redete, lachte und über Dinge sprach, über die sie sich mit niemandem sonst auf der Welt
     unterhalten konnte.
    An einem kalten Wintertag, nachdem Johanna und Gerold von der Domschule gekommen waren, winkte er ihr.
    »Komm«, sagte er. »Ich möchte dir etwas zeigen.«
    Er führte Johanna über die gewundenen Gänge und Flure bis in seine Schreibstube und zu der kleinen Truhe, in der er seine
     Papiere aufbewahrte. Er nahm einen langen rechteckigen Gegenstand heraus und reichte ihn Johanna.
    |144| Ein Buch! Ziemlich alt und an den Rändern eingerissen, aber noch heil. In schönen goldenen Lettern stand der Titel auf dem
     hölzernen Einband:
De rerum natura.
    Johanna konnte es kaum fassen. Das große Werk des Lukretius! Aeskulapius hatte oft von der Bedeutung dieses Buches gesprochen.
     Angeblich existierte nur eine einzige Abschrift, die wachsam und wohlbehütet in der großen Bibliothek des Klosters zu Lorsch
     aufbewahrt wurde. Und nun gab Gerold ihr so selbstverständlich ein Exemplar dieses Werkes, als würde es sich um ein Stück
     Brot am Frühstückstisch handeln.
    »Aber wie …?« Verwundert blickte sie ihn an.
    »Was niedergeschrieben ist, kann man kopieren«, antwortete er mit einem verschwörerischen Lächeln. »Sofern man dafür bezahlt.
     Viel bezahlt in diesem Fall. Der Abt hat ziemlich hohe Forderungen gestellt. Er habe wenige Kopisten zur Verfügung, sagte
     er. Und es hat tatsächlich länger als zehn Monate gedauert, bis die Arbeit fertig war. Aber hier ist das Buch. Und es ist
     jeden
denarius
wert, den ich dafür bezahlt habe.«
    Mit strahlenden Augen betastete Johanna den Einband. Während der vielen Monate, die sie nun schon die Domschule besuchte,
     hatte sie nie die Erlaubnis bekommen, mit einem Text wie diesem zu arbeiten. Odo gestattete ihr keinerlei Zugang zu den großen
     klassischen Werken, die in der Dombibliothek aufbewahrt wurden; Johanna durfte lediglich die geistlichen Schriften studieren
     – die einzigen Texte, die für ihren ›schwachen und leicht zu beeindruckenden weiblichen Verstand geeignet‹ seien, wie Odo
     sich ausdrückte. Es war schrecklich und bedrückend für Johanna gewesen, hilflos hinnehmen zu müssen, daß die kostbarsten Wissensschätze
     ihr verschlossen blieben. Und Gerold hatte dies gespürt; er schien immer zu wissen, was sie dachte oder fühlte. Wie konnte
     sie ihn da
nicht
lieben?
    »Nur zu«, sagte er. »Lies es. Und wenn du abends fertig bist, dann kommst du zu mir, und wir reden über die Abschnitte, die
     du gelesen hast. Es wird dich sehr interessieren, was Lukretius alles zu berichten hat.«
    Vor Erstaunen riß Johanna die Augen auf. »Dann hast du …?«
    »Ja. Ich habe das Buch gelesen. Überrascht dich das so sehr?«
    »Ja. Ich wollte sagen … nein … aber …« Johannas Wangen röteten sich, als sie stammelnd nach einer Antwort suchte. Sie hatte
     nicht gewußt, daß Gerold die lateinische Sprache beherrschte. |145| Nur sehr wenige Adelige und wohlhabende Männer konnten überhaupt lesen und schreiben. Es war die Aufgabe des Haushofmeisters
     – eines schreibkundigen, gelehrten Mannes – die Bücher zu führen und den erforderlichen Briefwechsel zu erledigen. Natürlich
     war Johanna davon ausgegangen …
    Gerold lachte, sichtlich erheitert über ihre Verlegenheit. »Schon gut. Du konntest es ja nicht wissen. Ich habe einige Jahre
     an der
scola palatina
studiert, als der alte Kaiser Karl noch lebte.«
    »An der
scola palatina
!« Der Name hatte einen legendären Klang. Kaiser Karls Palastschule hatte einige der größten Geister seiner Zeit hervorgebracht.
     Der große Alkuin persönlich hatte dort gelehrt.
    »Ja. Mein Vater hat mich dorthin geschickt. Er wollte, daß ich Gelehrter werde. Das Studium war hochinteressant, und es hat
     mir Freude gemacht; aber ich war noch sehr jung und einfach nicht dafür geschaffen, mein Leben auf Studierstuben zu verbringen.
     Als der Kaiser dann Männer zu den Waffen rief, um gegen die Awaren zu Felde zu ziehen, habe ich mich seinem Heer angeschlossen,
     obwohl ich erst

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