Die Päpstin
dreizehn war. Ich war mehrere Jahre fort und wär’s wahrscheinlich immer noch; aber dann starb mein älterer
Bruder, und ich wurde nach Hause gerufen, um das Erbe von Villaris anzutreten.«
Johanna betrachtete Gerold voller Staunen. Er war ein Gelehrter! Ein Mann, der lesen und schreiben konnte! Sie hätte es sich
längst denken müssen. Schon die Art und Weise, wie er mit ihr über ihre Studien redete, ließ deutlich erkennen, daß er ein
gebildeter Mann war.
»Jetzt aber los mit dir.« Liebevoll scheuchte er Johanna fort. »Ich weiß, daß du es nicht mehr erwarten kannst. Bis zum Abendessen
hast du noch eine Stunde Zeit. Aber daß du mir auf die Glocke achtest!«
Johanna stürmte die Treppe hinauf in den Schlafraum, den sie sich mit Dhuoda und Gisla teilte. Sie ging zum Bett, schlug das
Buch auf und begann zu lesen, langsam und bedächtig, wobei sie jedes Wort genoß. Hin und wieder hielt sie inne, um sich eine
besonders elegante Wendung oder ein besonders scharfsinniges Argument einzuprägen. Als mit der zunehmenden Dämmerung das Licht
im Zimmer schwand, zündete Johanna sich eine Kerze an und blätterte weiter.
Sie las und las, vergaß darüber die Zeit und hätte das |146| Abendessen vollkommen versäumt, hätte Gerold nicht einen Diener hinaufgeschickt, Johanna nach unten zu holen.
Die Wochen zogen rasch vorüber und waren angefüllt mit der aufregenden gemeinsamen Arbeit Johannas und Gerolds. Jeden Morgen
nach dem Erwachen fragte Johanna sich ungeduldig, wie sie es bis nach der Vesper aushalten sollte, wenn das Abendessen und
die dazugehörigen Andachten, Gebete und Lobgesänge endlich vorüber waren und sie und Gerold das Studium des Lukretius wieder
aufnehmen konnten.
De rerum natura
war eine Offenbarung – ein Wunder von einem Buch, so reich an Wissen und Weisheit. Um die Wahrheit zu entdecken, hatte Lukretius
an einer Stelle geschrieben, müsse man lediglich die Welt der Natur beobachten. Dieser Gedanke war zu Lukretius’ Zeiten vollkommen
vernünftig gewesen, doch Anno Domini 827 war er ungewöhnlich, ja, sogar revolutionär. Dennoch war es eine Philosophie, die
auf Johanna und Gerold, die beide einen Hang zum Praktischen besaßen, große Anziehungskraft ausübte.
Im Grunde lag es sogar an Lukretius, daß Gerold die weiße Wölfin fing.
Eines Tages, als Johanna von der Domschule nach Hause kam, fand sie Villaris in hellem Aufruhr vor. Die Haushunde bellten
sich die Kehlen heiser; im Pferch preschten die Pferde wild an den Gatterstangen vorbei im Kreis umher, und über das gesamte
Anwesen hallten aufeinanderfolgende, furchterregende, ohrenbetäubende Heullaute hinweg.
In der Mitte des Haupthofes entdeckte Johanna schließlich den Gegenstand der allgemeinen Aufregung. Es war eine große weiße
Wölfin, die sich verzweifelt wehrte und sich immer wieder mit wilder Wut gegen die hölzernen Stangen eines rechteckigen Käfigs
mit offenem Boden warf. Obwohl die Stangen aus dicker Eiche waren, knackten und ächzten sie unter den zornigen Angriffen der
wilden Bestie. Gerold und seine Männer umstanden in angespannter Wachsamkeit den Käfig, die Bogen schußbereit und die Lanzen
erhoben, falls es der Kreatur gelingen sollte, sich aus ihrem Gefängnis zu befreien. Gerold bedeutete Johanna zurückzubleiben.
Als Johanna der Wölfin in die seltsamen, rosafarbenen Augen blickte, in denen nackter Haß loderte, hoffte sie inständig, die
Käfigstangen mögen den Angriffen standhalten.
|147| Nach einer Weile ermüdete die Wölfin und stand schließlich hechelnd da; den Kopf gesenkt, auf wackeligen Beinen, starrte sie
die Männer an. Gerold senkte seinen Speer und kam zu Johanna herüber.
»Jetzt werden wir Odos Theorie überprüfen«, sagte er.
Zwei Wochen lang hielten die beiden bei der Wölfin Wache, entschlossen, die Geburt der Jungen zu beobachten, falls möglich.
Doch nichts geschah. Die Wölfin saß schmollend in ihrem Käfig und ließ keine Anzeichen einer bevorstehenden Geburt erkennen.
Johanna und Gerold bezweifelten schon, daß das Tier überhaupt schwanger war, als unvermittelt die Wehen einsetzten.
Es geschah, als Johanna Wache hatte. Abwechselnd strich die Wölfin von einer Seite des Käfigs zur anderen; dann wieder legte
sie sich zu Boden und wälzte sich hin und her, als könnte sie nicht die richtige Ruhestellung finden. Schließlich schnaufte
sie und grub das Maul und die Hinterpfoten in den Boden, während ihr Leib sich zu heben und
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