Die Päpstin
zu senken begann. Johanna rannte
los, um Gerold zu holen. Sie fand ihn im Haupthaus, wo er sich mit Richild unterhielt. Wie ein Wirbelwind stürmte Johanna
auf die beiden los und verzichtete auf die üblichen Höflichkeiten. »Komm rasch! Es hat angefangen!«
Gerold erhob sich sofort. Richild runzelte die Stirn und schien irgend etwas sagen zu wollen, doch sie durften keine Zeit
verschwenden. Johanna wirbelte herum und rannte den überdachten Säulengang entlang, der auf den Haupthof führte. Gerold, der
kurz stehengeblieben war, um sich eine Laterne zu nehmen, folgte Johanna dichtauf. Weder der Mann noch das Mädchen sahen den
Ausdruck auf Richilds Gesicht, als sie den beiden hinterherschaute.
Als sie auf den Haupthof gelangten, plagte die Wölfin sich schwer. Johanna und Gerold beobachteten, wie eine kleine Pfote
erschien, dann noch eine und dann ein winziger, makelloser Kopf. Schließlich, nach einer letzten Kraftanstrengung der Wölfin,
glitt ein kleiner, feuchter dunkler Körper ins Stroh, das auf den Käfigboden gestreut war, und blieb dann regungslos liegen.
Johanna und Gerold mühten sich, in der Dunkelheit im Käfig etwas zu erkennen. Das neugeborene Junge rührte sich immer noch
nicht; sein nasses Fell lag so dicht am Körper an, daß |148| man kaum erkennen konnte, an welchem Ende der Kopf und an welchem der Schwanz war. Gerold hob die Laterne und drückte sie
gegen die Käfigstangen, damit mehr Licht ins Innere fiel. Das Neugeborene schien nicht zu atmen, während die Wölfin wieder
schwer zu keuchen begann. Offenbar kam bald ein zweites Junges. Wieder beobachteten sie angestrengt, doch das winzige Wesen
rührte sich nicht, noch gab es irgendein Lebenszeichen von sich.
Johanna warf Gerold einen verzweifelten, fragenden Blick zu. Stimmte es tatsächlich? Würde das Junge leblos liegenbleiben
und darauf warten, daß sein Vater kam, es ableckte und auf diese Weise zum Leben erweckte? Hatte Odo doch recht?
Falls dem so war, hatten sie das Junge getötet; denn sie hatten die Mutter und das Kleine hierhergeholt – weit fort vom Vater,
der es ins Leben gerufen hätte.
Noch einmal stieß die Wölfin ein gequältes Geräusch aus; dann glitt ein zweiter kleiner Körper aus ihrem Leib und landete
halb auf dem ersten. Der Aufprall erschreckte und schmerzte das Erstgeborene; es zuckte und wand sich und stieß einen leisen,
protestierenden Schrei aus.
»Sieh nur!« Johanna und Gerold stießen sich an, zeigten in gemeinsamem Überschwang auf die beiden Kleinen und lachten voller
Zufriedenheit über den Ausgang ihres ›Experiments‹.
Die zwei Jungen taumelten auf wankenden Beinchen zur Mutter, um gesäugt zu werden, noch während ein drittes Kleines zur Welt
kam.
Gemeinsam beobachteten Johanna und Gerold das Werden dieser kleinen neuen Familie. Ihre Hände suchten einander in der Dunkelheit,
berührten sich und verschränkten sich in gegenseitigem Verstehen.
Nie im Leben hatte Johanna sich einem Menschen so nahe gefühlt.
»Wir haben euch bei der Vesper vermißt.« Richild stand unter dem Dach des Säulengangs und blickte Gerold und Johanna mißbilligend
entgegen. »Heute ist der Abend des heiligen Norbert.« Sie starrte Gerold an. »Hast du das vergessen? Du gibst ein schlechtes
Beispiel, wenn du als Herr dieses Anwesens bei den Andachten fehlst.«
|149| »Ich mußte mich um etwas anderes kümmern«, sagte Gerold mit frostiger Stimme.
Richild setzte zu einer Erwiderung an, doch die aufgeregte Johanna kam ihr zuvor.
»Wir haben zugeschaut, wie die weiße Wölfin Junge bekommen hat! Es stimmt nicht, was die Leute erzählen! Die Kleinen werden
nicht tot geboren!« verkündete sie voller überschwenglicher Freude. »Lukretius hatte recht!«
Richild blickte das Mädchen an, als hätte es den Verstand verloren.
»Für alle Dinge in der Natur gibt es eine Erklärung«, fuhr Johanna fort. »Versteht Ihr denn nicht? Die Jungen wurden lebend
geboren. Es gibt dabei keine Beziehung zum Übernatürlichen. Genau wie Lukretius gesagt hat!«
»Was für wirre, gottlose Dinge redest du da? Hast du Fieber, Kind?«
Gerold trat rasch zwischen sie. »Geh zu Bett, Johanna«, sagte er über die Schulter. »Es ist spät.« Dann nahm er Richild mit
festem Griff beim Arm und führte sie mit Nachdruck ins Haus.
Johanna blieb, wo sie war, und lauschte Richilds Stimme, die schrill und keifend durch die stille Abendluft schnitt.
»Das kommt davon, wenn man das Mädchen Dinge
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