Die Papiermacherin
Idee kam, seine Kunst anderswo für gutes Silber zu verkaufen. Ihm hätte es schließlich freigestanden, ins Reich der Mitte zurückzukehren, denn seine Sippe war nicht in Ungnade gefallen. Vielmehr entstammte er einer Familie von Schreibern, die es hierher verschlagen hatte, als die Macht der Kaiser aus dem Reich der Mitte noch bis nach Xi Xia reichte und im Namen der Himmelssöhne Steuern erhoben, eingetrieben und verzeichnet werden mussten. Aber diese Zeiten waren lange vorbei. Das Reich der Mitte glich an seinen Rändern einem zwar kunstvollen, aber altersschwachen, ausgefransten und mottenzerfressenen persischen Wandteppich, der sich unablässig weiter auflöste. Jeder Versuch, diesen Vorgang anzuhalten, machte es nur schlimmer.
Damals, als das Reich Xi Xia die Herrschaft der Himmelssöhne von Bian abschüttelte wie ein lästiges Joch, verlor auch Gaos Familie nach und nach ihren bescheidenen Wohlstand. Die Zahl der Schreiber verringerte sich ebenso wie die der Soldaten und Beamten. Und Steuern wurden häufig nicht nach Listen erhoben, sondern nach reiner Willkür festgesetzt.
Unter anderen Umständen hätte Wang sicher gefunden, dass Gao ein passender Schwiegersohn für seine Tochter sei. Eigentlich brachte er alles dafür mit. Er war handwerklich geschickt und beherrschte die Kunst des Papiermachens auf eine Weise, wie es sonst nur wenige von sich behaupten konnten. Somit verfügte er in jedem Fall über eine sichere Grundlage, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Davon abgesehen besaß er Erwerbssinn und ein sanftmütiges, ausgeglichenes Wesen, wie Wang es sich für den Ehemann seiner Tochter wünschte. Aber der Papiermacher hatte sich vorgestellt, dass durch die Heirat seiner Tochter auch der Besitz vermehrt würde. Und solange sie jung und hübsch war, meinte er, brauchte er diese Hoffnung noch nicht aufzugeben.
Li hatte diese Pläne ihres Vaters immer mit gemischten Gefühlen betrachtet. Sorge zu tragen, dass sich der Besitz der nachfolgenden Generationen mehrte, war gewiss die Pflicht eines Vaters. Aber hatte nicht Wangs eigenes Leben gezeigt, dass Besitz nicht alles war? Auf jeden Fall keine Gewähr für wirklich tief empfundenes Glück. Li dachte in diesem Zusammenhang unwillkürlich an die selbst gewählte Armut der tibetischen Mönche, die die Lehren Buddhas verbreiteten und dabei einzig auf die Weisheit ihrer Worte und die Kraft ihres persönlichen Beispiels als Mittel der Bekehrung setzten. Aber eigenartigerweise schien auch für die Mönche der Nestorianer das Aufgeben des Besitzes eine Voraussetzung für die Erlösung zu sein – und wenn zwei so unterschiedliche Lehren wie die von Buddha und Christus in diesem Punkt übereinstimmten, dann war vielleicht ein wahrer Kern darin.
Der Überfall der Uiguren hatte natürlich alles über den Haufen geworfen, was Wang je an Zukunftsplänen für seine Tochter geschmiedet hatte. Nicht einmal die Götter mochten jetzt wissen, was vor ihnen lag.
In der ersten Nacht lagerten die Uiguren für wenige Stunden zwischen Mitternacht und Morgengrauen an einer Wasserstelle. Sie lag geschützt zwischen den kargen, felsigen Bergen und man musste sie wohl kennen, um sie zu finden.
Der Uigure mit dem Dreiecksamulett der Manichäer, den Li inzwischen für einen der Unterführer hielt, gab einigen seiner Leute die Anweisung, die Gefangenen zu fesseln. Daraufhin wurden lange Hanfseile aus den Satteltaschen geholt, mit denen man sonst Pferde anbindet.
Doch der narbige Toruk schritt ein.
»Wohin sollen sie denn schon gehen – bei Nacht allein in dieser Einöde?«, fragte der Anführer des räuberischen Trupps. »Davon abgesehen werden die meisten von ihnen es nicht gewöhnt sein, an einem Tag mehr Meilen im Sattel hinter sich zu bringen als vermutlich je zuvor in ihrem Leben.«
Toruk wandte sich dann persönlich an die Gefangenen. Im Schein des Lagerfeuers, das die Uiguren entzündet hatten, sah sie, wie ein Muskel nur wenig oberhalb der Narbe, die seine Züge entstellte, unruhig zuckte. »Wer es wagen sollte zu fliehen, hat keine Gnade zu erwarten!«, rief er. »Wir werden jeden, der das versucht, sofort töten, gleichgültig, ob seine vornehme Herkunft ein gutes Lösegeld verspricht oder wir ihn nur als Arbeitssklaven verkaufen könnten!« Dann wiederholte Toruk seine Worte in einem barbarischen, akzentbeladenen Dialekt der Sprache des Han-Volks, wie sie einige seiner Abkömmlinge in die am westlichsten gelegenen Provinzen des Reichs der Mitte gebracht
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