Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit
einer Million Zuschauern, Caipirinha und freuen sich, in so einem »bunten« Umfeld zu leben. Kommen ihre Kinder aber ins schulpflichtige Alter, wird aus der Bereicherung auf einmal eine Bedrohung. Türkische Gemüsehändler, schön und gut, aber türkische Mitschüler? Lieber nicht. »Für meine Klasse«, sagt Miriam, »gab es keine Lobby. Und für junge Lehrer gibt es auch keine Lobby. Die alten Lehrer sind damit beschäftigt, unter widrigen Bedingungen halbwegs unbeschadet in den Ruhestand zu kommen. Und die deutschen Eltern sind damit beschäftigt, wenigstens ihre Kinder halbwegs unbeschadet ins Erwachsenenleben zu bringen.«
In meiner neuen Wohnung fiel mir am selben Abend aus einer Umzugskiste ein verstaubter Ordner entgegen. Darin: Alte Zeugnisse, Telefonlisten, Klassenfotos von damals. Das erste Foto unserer Klasse, der 1c, entstand am 30. Juli 1990. Wir haben uns in der Aula aufgereiht. Überragt werden wir von Frau Schach und ihren Locken. Wir liebten sie alle ab der ersten Stunde. Aber uns allen stand auch die Angst vor dem neuen Alltag ins Gesicht geschrieben. Auf einem anderen Bild von diesem Tag klammert sich jeder von uns an seine Schultüte. Keiner sagte ein Wort, erinnere ich mich. Ahmed hat mich dann gefragt, ob der Stuhl neben mir noch frei sei. Auf dem Klassenfoto ist Ahmed der Einzige, der nicht verschüchtert in die Kamera schaut. Er lacht. Er gluckst, aber das sieht man nicht.
»Wie viele nichtdeutsche Freunde hast du denn heute?«, hatte Miriam am Ende unseres Wiedersehens gefragt. Ich fing an aufzuzählen: Javier, Sean, John, Ruggiero. Spanier, Engländer, Amerikaner, Italiener. Keiner länger als zwei Jahre in Berlin. Die nichtdeutschen Menschen, die jetzt zu meinen Freunden gehören, sind alle zum Studieren nach Deutschland gekommen oder weil sie hier Arbeit gefunden haben. Es sind Menschen aus meinem Milieu. Ihre Lebensläufe ähneln meinem, auch wenn sie weit entfernt von hier stattgefunden haben. Ahmed wohnte auf der anderen Straßenseite. Doch: Irgendwo haben wir uns verloren. Laut einer aktuellen Studie sind selbst in der zweiten Generation viele Menschen mit türkischen Wurzeln noch nicht in Deutschland »angekommen«. Sie leben zwar hier, sind aber im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben kaum präsent. Dreißig Prozent der Türken und Türkischstämmigen hierzulande haben keinen Schulabschluss und nur vierzehn Prozent das Abitur. Miriam unterrichtet eine Klasse mit Schülern, die schon abgehängt sind, bevor sie überhaupt gestartet sind. Der Freund fürchtet die Ausländerkinder. Und die Bundeskanzlerin erklärt »Mulit-Kulti« offiziell für gescheitert. Wir waren doch schon mal weiter. Wir waren eine multi-kulturelle Klasse, wenn man das so nennen will. Was ist bloß schiefgelaufen?
Ich saß auf dem Boden vor dem verstaubten Leitz-Ordner und ging die Namen meiner Mitschüler und ihrer Eltern auf der Adressliste durch. Manche Mitschüler habe ich in den letzten Jahren immer mal wieder gesehen, zufällig auf Partys oder in der Mensa. Malin, die mich durch das Gymnasium begleitet hat, mit der zusammen ich Abitur gemacht habe, sehe ich fast täglich. Sie hat von Ahmed und den anderen türkischen Kindern auch nichts mehr gehört. Von den meisten deutschen Mitschülern aus der Grundschule weiß ich ungefähr, was sie treiben. Berlin ist auch nur ein Dorf, man hört dies und das. Die Mitschüler, deren Eltern nicht aus Deutschland stammten, scheinen dagegen in einem anderen Dorf zuhause zu sein. Nur Sami, der auch mit mir aufs Gymnasium kam, habe ich noch eine Weile gesehen. Bis er in der elften Klasse plötzlich verschwand.
Ich fand an diesem Abend, dass es Zeit war, meine alten Klassenkameraden wiederzutreffen. Sie zu fragen, ob wir nicht alle davon profitiert haben, gemeinsam zur Schule gegangen zu sein. Und was sie in den letzten zwanzig Jahren erlebt haben. Ich wollte die deutschen Schüler fragen. Aber auch die vermeintlich nichtdeutschen, über die in den vielen Talkshows zur Integration immerzu geredet wird, die dort aber selbst nur selten zu Wort kommen. Ahmed und die anderen.
2.
Verschollen und verdrängt
Auf Ahmeds Mailbox hört man ihn in seinem türkisch gefärbten Berlinerisch Folgendes sagen: »Hallo, dit is die Mailbox von Ahmed. Ihr braucht nüschts drauf schprechen. Ick höre dit eh nich ab.« Das ist witzig. Beim ersten Mal. Beim zehnten Mal nicht mehr. Egal, zu welcher Tages- oder Nachtzeit ich Ahmed anrufe: Er geht nicht ans Telefon. Ahmed hört seine
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