Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit
1.566,51 Euro gestiegen ist. Mit den Wohnungen, die so frei werden, wird munter spekuliert, sie gelten als lohnende Kapitalanlage. Und den Vormietern bleibt oft nichts anderes übrig, als weit weg zu ziehen, in Bezirke am anderen Ende der U-Bahn-Linien, dorthin, wo die Mieten noch den Vorgaben der Ämter entsprechen.
Es steigen in Kreuzberg, dem Bezirk, den einst die Alternativen und Ausländer prägten, nicht nur die Mieten, es wachsen auch die sozialen Gegensätze und die Spannungen. Wer mehr hat, der hat auch mehr zu verlieren, gerade, wenn er von Verlierern umgeben ist. Die »Carlofts« mit ihrer irrsinnigen Garagenidee sind ein besonders drastisches Symbol für den neuen Zuzug nach und die neue Abgrenzung in Kreuzberg. In den letzten Jahren wurden in Berlin einige hundert Autos angezündet, vermutlich von linksgerichteten Gentrifizierungsgegnern, es waren meist sehr teure Modelle. Direkt vor unserer Schule brannte erst vor wenigen Monaten ein Porsche mit Münchner Kennzeichen komplett aus, entzündet mit Brandbeschleuniger. So gesehen ist es nur logisch und vielleicht sogar verständlich, dass die betuchten Neu-Kreuzberger ihre Autos lieber im Wohnzimmer parken und den Aufzug zu ihrer 300-Quadratmeter-Wohnung mit einem Code sichern. Die »Carlofts« sind natürlich ein Extrembeispiel. Das Konzept scheint nicht aufzugehen, nur wenige dieser Lofts konnten bislang verkauft werden, was irgendwie beruhigend ist. Aber es gibt unzählige Mietshäuser in der Umgebung, die aufwändig saniert und horrend verteuert wurden, wie das »Quartier73« – und die ebenfalls Hass provozieren. An die Fassaden klatschen Farbbeutel, Scheiben gehen zu Bruch. Diese Sachbeschädigungen kann man verurteilen. Man kann den Alt-Kreuzbergern, die sich gerade auch öffentlichkeitswirksam gegen die lauten Partytouristen aus allen Kontinenten wehren, fehlende Toleranz und Neid vorwerfen, wie es oft geschieht. Man kann sich über die Wut gegen die Aufwertung der Quartiere wundern, denn die, die am lautesten gegen Gentrifizierung schimpfen, sind doch selbst vor Jahren neu nach Kreuzberg gezogen und haben den Bezirk lebenswerter und damit auch teurer gemacht. Meine Eltern, Spießigkeits- und Bundeswehr-Flüchtlinge aus Stuttgart, waren sozusagen die ersten Gentrifizierer. Aber man kann auch feststellen, dass der Wohnungsmarkt in Kreuzberg ein besonders aggressiver geworden ist, ein ungezügelter. Dass sich die Lokalpolitik in Sachen Mieterschutz machtlos gibt. Dass tatsächlich eine Verdrängung stattfindet und dass die, die verdrängt werden – die Arbeitslosen, die Mini-Jobber und die Migranten –, meist keine Stimme haben. Es beschweren sich derzeit die Kreuzberger, die sich ihre steigenden Mieten noch leisten können, aber Angst haben, dass das eines Tages nicht mehr so ist. Die Kreuzberger, die sich die Mieten jetzt schon nicht mehr leisten können, verschwinden einfach, sie gründen keine Bürgerinitiativen, sie sind keine Wutbürger. Sie sind stumme Bürger.
Da ich Ahmed nicht erreiche, gehe ich die alte Adressliste unserer Grundschulklasse durch. Mit den Telefonnummern von früher habe ich kein Glück. Kein Anschluss unter dieser Nummer, Menschen, die nicht wissen, von wem ich rede. Zuletzt versuche ich es bei Sven. Sven war der Schüler, der bei Telefonketten immer vergessen wurde. Den niemand anrufen wollte. Sven kam erst in der dritten Klasse zu uns, er war sitzengeblieben. Sven war älter und dicker als wir alle. Er trug Pullover, die man schon damals nicht mehr trug, und eine Brille, die seine Augen ganz klein machte. Sven sprach wenig und schnaufte viel. Er zeichnete während des Unterrichts die »Ninja Turtles« in wilden Kämpfen auf seine Hefter – und er schrieb nichts in die Hefter hinein, dementsprechend schlecht blieben seine Noten. Sven wurde nur einmal gehänselt, das war in seiner ersten großen Pause bei uns. Moritz rief: »Du bist so dick, dass gar kein Ball an dir vorbei ins Tor kommt«. Sven nahm Moritz in den Schwitzkasten, bis zum Ende der Pause. Danach wurde Sven nur noch ignoriert. Ich war wohl der Einzige von uns, der je bei ihm zuhause war, nicht ganz freiwillig. Er lebte mit seiner Stiefmutter und seinem Vater in einer engen Neubauwohnung an einer vierspurigen Straße. Svens Mutter lebte um die Ecke, aber er sehe sie selten, sagte Sven, sie sei beschäftigt. »Was macht sie?«, fragte ich. »Sie trinkt«, sagte Sven. Unser Direktor und Englischlehrer Herr Seibel hatte mich gebeten, Sven Nachhilfe zu geben.
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