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Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit

Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit

Titel: Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Bauer
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traute sich früher alleine in das Treppenhaus. Keiner gab zu, dass er Angst hatte. Aber wer morgens ohne Begleitung am Schuleingang ankam, wartete auf den nächsten. Es hieß, es seien mal Kinder verschwunden zwischen dem dritten und dem vierten Stock. Vor dem Lehrerzimmer im Erdgeschoss steht an diesem Tag Herr Fritz. Herr Fritz war der Klassenlehrer der Parallelklasse, mit der wir anfangs gemeinsam Sportunterricht hatten. Wenn Herr Fritz wütend wurde, weil wir ihm im Sitzkreis nicht zuhörten, zog er sich den linken Turnschuh aus und warf ihn nach uns. Zwanzig Jahre später starrt Herr Fritz auf eine Pinnwand, an der kein einziger Zettel hängt.
    »Herr Fritz?«
    Herr Fritz starrt weiter auf die Pinnwand.
    »Wissen Sie, wo ich Frau Schach finden kann?«
    »Ja, ja, Frau Schach, gute Frau, wirklich eine gute Frau, die Beste, die wir haben. Nehmen Sie sich ein Beispiel an der. Frau Schach, Susanne steht zu ihrem Wort, hat noch Ideale, weiß sich zu wehren. Gute Frau, glauben Sie mir. Für junge Lehrer ein echtes Vorbild, oder?«
    »Ich bin kein Lehrer, ich bin ein ehemaliger Schüler von Frau Schach.«
    »Dann haben Sie Glück gehabt«, sagt der Mann, vor dessen Schuhen, Größe 46, wir uns fürchteten, und schaut durch mich hindurch, »Sie hätten auch bei mir in der Klasse landen können. Frau Schachs Klasse sitzt da hinter der letzten Tür.«
    Vor Klassenzimmer 0.11 hängt die übliche Grundschulkunst an der Wand: Fingerfarbenbilder, Gipsadrücke, Ausflugserinnerungen. »Die Mama und die Papa von Suleyman kamen zum Zoo mit. Die Mama hat eine Kopftuch, weil sie an Allah glaubt«, steht in Schnörkelschrift neben einigen Fotos. Zwei kleine Mädchen betrachten ein Plakat, auf das diverse Gegenstände gemalt sind. »Was siehst du hier?«, steht auf dem Plakat. Die Mädchen gehen die Gegenstände der Reihe nach durch. »Ball, Haus, Schaukel, Bus, Schlüssel, Katze, Insel …« Sie stutzen. Das nächste Bildchen zeigt ein längliches Ding, es könnte ein Schraubenzieher sein oder eine Luftpumpe oder vielleicht ein Zauberstab. »Was soll das denn sein«, fragt eines der Mädchen. Beide drehen sich zu mir um. »Wissen Sie, was das ist?« »Nein«, sage ich, »ich überlege auch gerade.« »Guck, er weiß es nicht«, sagt das Mädchen, »er ist ein Deutscher und weiß es auch nicht!« »Ah«, ruft das andere Mädchen, »na klar, ein Stock!« Es schaut zu mir: »Sie sollten Deutsch-Nachhilfe nehmen!«
    Im Klassenzimmer sitzt Frau Schach auf einem Stuhl, der viel zu klein für sie ist, umringt von zehn Jungen und Mädchen. Sie hat ihre Knie fast bis ans Kinn gezogen. Die Kinder strecken ihr Hefte entgegen, jedes will, dass Frau Schach sein Heft zuerst anschaut, zehn Kinderstimmen rufen: »Frau Schach, bitte!« Ein Junge kommt auf mich zugerannt, er springt an meinen Beinen hoch wie ein Schoßhund, der tagelang alleine eingesperrt war, und schreit: »Was willst du, was willst du?« Ich sage, dass ich Frau Schach besuchen möchte. »Bist du seine Sohn, bist du seine Sohn?« »Nein, ich bin nicht ihr Sohn.« »Du siehst aber sie ähnlich. Du siehst aus wie seine Sohn!« »Das heißt: ihr Sohn«, sage ich nun etwas lauter, während ich versuche den Jungen von meinem Arm zu schütteln. Frau Schach erhebt sich mit einem Seufzer von dem kleinen Stuhl. »Lass das, Tuncay! Was gibt es denn?«, plötzlich hellt ihr Gesicht auf, der leere Blick weicht einem Grinsen, als sei sie gerade aus einem anstrengenden Alptraum geweckt worden. »Warte, sag nichts, du bist … Patrick! Aus der Klasse mit Ahmed, Anton, Miriam, na klar!« Frau Schach sagt, sie erinnere sich an jeden von uns, weil wir ihre erste Klasse waren, sie hatte gerade ihr Referendariat beendet, mit uns fing alles an. Sie umarmt mich. Wir sind Fremde. Aber es fühlt sich vertraut an, es erscheint wie das Normalste, was wir in dieser Situation machen können. Wir durften sie immer umarmen, auf Klassenfahrten, vor dem Wochenende, nach der Zeugnisvergabe, wir brauchten das. Jetzt ist es, als brauche sie das. Frau Schach reicht mir bis zur Brust. Aber sie fühlt sich immer noch an wie Frau Schach. Ein weicher Lehrkörper. Legginstragende, kreideverstaubte Frau Schach. Ihr Haar ist noch immer ein Wollknäuel, nur dass die Wolle grau geworden ist.
    »Boah, wann war das, bei Jesus Geburt, so lange her, ihr seid voll alt«, schreit der kleine Tuncay, der jetzt wieder an meinem Arm hängt. »Ihr könnt alle nach Hause gehen«, ruft Frau Schach und flüstert zu mir: »Das ist

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