Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit
Lautsprecherdurchsagen, das Trampeln kleiner Turnschuhe auf dem Asphalt, eine Lehrerstimme, noch lauteres Kreischen, dann das Rasseln der Schulklingel. Ich stehe einige Minuten am Rand des Schulhofs, auf dem ich gelernt habe, freihändig Fahrrad zu fahren und Mädchen zum Weinen zu bringen. Was ja jeder meint, sagen zu müssen, der an Orte der Kindheit zurückkehrt: Alles wirkt viel kleiner als damals. Logisch. Der Schulhof der Blücher-Grundschule, eingerahmt von hohen Brandmauern und einer Kirche, die hier im Bezirk nie eine Rolle spielte, war für mich als Kind eine kaum zu durchquerende Welt, deren Kontinente der Sandkasten, der Blumengarten, die alte Eiche im fernen Süden und der Sportplatz waren. Meine Tage fanden eben vor allem auf diesem Schulhof statt, alles Wichtige passierte hier. Der Schulhof war mein Leben. Natürlich war er groß und weit und abenteuerlich. Und natürlich ist es nur ein enger, betonierter Spielplatz.
Ein Junge mit staubigen Fußballschuhen und dunkler Haut guckt mich von weit unten an und kräht: »Was machen Sie hier?«
»Ich besuche die Schule.«
»Aber Sie sind ein Erwachsener. Sie haben kein Recht, hier zu sein!«
Der Junge rennt weg.
»Wo die das bloß lernen«, spricht eine rauchige Stimme hinter dem Blumenkübel, neben dem ich stehe. Herr Sobotzki, ein runder, zerfurchter Mann mit kahlem Kopf und rotem Vollbart, erhebt sich stöhnend hinter dem Gestrüpp, das er gerade gießt. Herr Sobotzki war schon Hausmeister der Grundschule, als ich eingeschult wurde. Er lebte mit seiner Frau in der Wohnung direkt neben dem Haupteingang, rauchte den ganzen Tag Zigarillos am Fenster und schrie uns an, weil wir zu laut oder zu viele oder zu schnell waren. Er schien Kinder nicht sonderlich zu mögen. Seine Frau schenkte uns oft Bonbons, als wolle sie sich für ihren Mann entschuldigen. Als die Frau eines Tages auf den Stufen zur Schule einen Schlaganfall erlitt und mit dem Kopf sehr unglücklich auf die Steintreppe fiel, hatten die Sommerferien gerade begonnen. Nach den Ferien trug Herr Sobotzki diesen roten Vollbart und trank genauso viel wie er rauchte. Jetzt lallte er zwar, schimpfte aber weniger und gab uns ab und an von den Bonbons, die seine verstorbene Frau immer bei sich getragen hatte.
»Ich verstehe wirklich nicht, woher die das haben. Die Ausländerkinder. Immer sagen die, man habe kein Recht, irgendetwas zu tun. Du hast kein Recht, hier zu sein. Ich habe kein Recht, ihnen zu verbieten, die Blumen herauszurupfen. Ich habe kein Recht, ihnen das Fahrradfahren auf dem Hof zu untersagen. Ich habe kein Recht, sie am Kragen festzuhalten, wenn sie sich gegenseitig die Fresse polieren.«
Herr Sobotzki sagt, er würde mich nicht wiedererkennen. Kinder sähen alle gleich aus. »Aber heute würdest du mir auffallen, du wärst hier ne Kuriosität als deutscher Junge, so was gibt’s nur noch selten. Hier gibt’s ja nur noch freche Araber.«
»Wir waren doch früher auch frech«, sage ich.
»Aber gegen diese Jungs von heute hättet ihr keine Chance gehabt. Das sind Killer im Vergleich zu euch. Und ihr hattet keine Ahnung von euren Rechten. Heute gibt’s nur noch so freche Jungs wie der eben, die von ihrem Ausländervater lernen, dass sie sich an keine Rechte halten müssen in diesem Land oder dass niemand ein Recht hat, ihnen etwas zu sagen. Keinen Respekt haben die. Keine Manieren. Keine Grammatik. Keine Zukunft.«
Herr Sobotzki ist nur schwer zu unterbrechen.
»Klingt ja so, als sei alles nur schlimmer geworden, seitdem ich die Schule verlassen habe«, sage ich.
Herr Sobotzki hustet und beugt sich wieder hinter seinen Blumenkübel. »Schau dich doch um. Als nächstes streichen sie meine Stelle, weil ich kein Recht habe, diese Blumen zu gießen.«
»Wissen Sie, ob Frau Schach noch unterrichtet?«
»Ob sie noch unterrichtet, weiß ich nicht. Aber ich sehe sie jeden Morgen in die Schule laufen. Ich bezweifle nur, dass Frau Schach die Kinder noch normal unterrichten kann. Denen kann man doch nichts beibringen. Wahrscheinlich hat sie dazu sowieso kein Recht. Die arme Frau. Ist doch Scheiße.«
Ich hatte vergessen, wie düster und kalt das Treppenhaus der Schule ist. Aber jetzt, da ich es wieder betrete, wird mir klar, dass ich in den letzten Jahren oft von diesem vermoderten Treppenhaus geträumt habe. Wie ich die Stufen hinaufrenne, aber nie ankomme. Wie ich das große Einmaleins aufsagen muss und dabei hoch und wieder runter und wieder hoch rennen muss. Niemand aus unserer Klasse
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