Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit
Deutsche treffen sich in der Kneipenstraße nur an einem Ort: den »Spätis«. Spätis, Spätkaufs, Nachtkioske boomen, weil sie die Neu-Berliner mit Zigaretten, Bier und Kondomen ausstatten zu Zeiten, in denen die Neu-Berliner sich eigentlich schon für den kommenden Uni-Tag ausschlafen müssten. Die meisten Spätis werden von Türken betrieben, Murats Onkel hat auch einen Späti eröffnet, Weser- Ecke Elbestraße, »Drink and Eat in Neukölln« steht auf dem Schild. So profitieren die Alt-Berliner doch noch von den Neu-Berlinern, die ihre Wohnungen teuer machen. »Überall Fremde«, sagt Murat, »und ihr Deutschen wollt mit erzählen, ich sei hier fremd. Das ist meine Stadt. Was wollt ihr noch?«
Die Frage ist schwer zu beantworten: Was will dieses Land von Murat? Wahrscheinlich: nichts. Murat ist ein unauffälliger Bürger. Murat macht keine Probleme. Aber integriert ist Murat nicht. Jedenfalls nicht in die Gesellschaft, die ich kenne. Er arbeitet. Er geht ins Shisha-Café. Mehr nicht. Murat wählt nicht. Murat schaut keine deutschen Nachrichten. Er liest keine Zeitung. Er weiß nicht, wer Sarrazin ist. Er weiß nicht, welcher Partei der Regierende Bürgermeister von Berlin angehört. Es schert ihn auch nicht. Murat zahlt seine Steuern und beachtet die meisten Verkehrsregeln, wenn er sich den schwarzen Golf III seines kleinen Bruders leiht, um einfach nur kreuz und quer durch Kreuzberg zu fahren. Murat gehört zu einer Gruppe von Menschen in diesem Land, die es eigentlich nicht mehr gibt: Er ist ein Gastarbeiter. Was er von seinen Eltern geerbt hat: das Gefühl, hier nicht zuhause zu sein, und die viele Arbeit. Murat arbeitet mehr und härter als alle anderen, die ich in meinem Alter kenne. Er arbeitet, weil er muss. Er verdient so wenig, dass am Ende des Monats nichts übrig bleibt, aber eigentlich arbeitet er, um genug Geld zu haben, um die Familie doch noch nach Izmir umsiedeln zu können. Um das zu erreichen, was seine Eltern nicht geschafft haben. Murat sagt, er liebe Izmir. Nach unseren Treffen hat er zum ersten Mal seit drei Jahren Urlaub. Diesmal muss er nur seinen eigenen Koffer aus dem Wagen wuchten. Drei Wochen bleibt er in Izmir. Auf Facebook kann man ihn auf seiner Reise begleiten. Er veröffentlicht Fotos aus der Innenstadt, zu sehen sind große Betonklötze und Einkaufszentren, Murat schreibt dazu: »Ein Traum!!! Izmir!!!« Er veröffentlicht Fotos von seiner Großtante und seinen Cousins. Nach drei Tagen schreibt Murat: »Izmir!! Langeweile! Wo soll ich noch hin hier?« Er veröffentlicht dann nicht mehr viel. Nach seiner Rückkehr sagt Murat kleinlaut, er habe nicht viel gemacht in Izmir. Er kenne dort niemanden. Es sei anders dort alleine, anders als früher, als Izmir ein Ferienparadies war, als die Eltern ihm alles zeigten. Izmir hieß für Murat immer Freiheit, Ferne, Heimat. Aber nun lief er drei Wochen lang durch eine Heimat, mit der er nichts anzufangen wusste. »Mit einer Frau wäre es anders«, sagt Murat. Aber er hat keine Frau. »Für mich kommt nur eine Türkin in Frage«, sagt Murat, »deutsche Frauen sind sehr eingebildet.« Er kennt kaum deutsche Frauen, aber man hört ja so einiges. »Ich habe den deutschen Pass abgelehnt«, sagt Murat. Mit 21 Jahren musste er sich für eine Nationalität entscheiden. Aber die Entscheidung war längst gefallen.
Der Unterschied zwischen Murat und Fatih ist: Fatih wollte mehr erreichen als seine Eltern. Murat will das Gleiche erreichen wie seine Eltern. Murat und Fatih leben beide noch zuhause. Aber Fatih ist eigentlich schon weiter. Früher, wenn Elternabend war, begleitete Fatih seinen Vater und übersetzte für ihn. Später, im Gymnasium, sagt Faith, kam er alleine und vertrat sich selbst. Murats Eltern waren nie auf einem Elternabend, er selbst auch nicht. Ein anderes Kind war dafür auf den Grundschul-Elternabenden immer anwesend: Elin. Meine Mutter erzählte mir das jedes Mal. »Wer ist denn dieses hübsche türkische Mädchen, das immer mit seinem Vater kommt?«, fragte sie. Ein hübsches Mädchen? Ich wusste von nichts.
Das hübsche Mädchen ist längst eine hübsche Frau. Elin ruft mich an: »Okay, wir können uns morgen treffen. Am Besten in meiner Mittagspause.« »Wo arbeitest du denn?« »Am Flughafen-Schönefeld.« Wieder warte ich vor dem Terminal, Elin kommt schließlich in einem Stewardess-Hosenkleid aus der Drehtür. Sie arbeitet am Check-In, gehört zum »Bodenpersonal«. Sie weiß nicht, dass Murat auch hier arbeitet und die
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