Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit
nicht sehr erfreut, meine Stimme zu hören. »Ich habe doch gesagt, dass ich mich melde«, sagt er. Und: »Ich melde mich bald.« Ich rufe noch in die Leitung, dass es wirklich dringend ist, ob wir uns nicht gleich heute treffen wollen – aber er hat bereits aufgelegt.
Ich weiß zu diesem Zeitpunkt bereits, wo Ahmed wohnt. Ich habe ihn doch noch im Melderegister gefunden. Vorderhaus, zweiter Stock, eine Türkei-Fahne hängt im Fenster. Auf dem Klingelschild steht zweimal »A. Ertüklü«, im dritten und im zweiten Stock. Das andere »A.« wird für Abdul stehen. Es war klar, dass sie unzertrennlich bleiben würden.
Ahmed und Abdul waren ungleiche Brüder. Ahmed war schlank und laut. Abdul war rund und leise. Ahmed hatte glattes, dunkles Haar und starke Arme. Abdul hatte lockiges, rotes Haar und starkes Asthma. Was sie gemeinsam hatten: ihr Temperament. Man konnte Ahmed und Abdul leicht reizen. Sie waren kleine Choleriker. Stolze Choleriker. Einmal lachte Simon über Ahmeds Referat, das er über die Kaulquappen hielt, die wir in unserem Aquarium in der Lese-Ecke züchteten. Am nächsten Tag merkte er gerade noch rechtzeitig, dass einige Kaulquappen in seiner Trinkflasche zappelten, bevor er daraus trank. Ahmed, der Stärkere, rächte sich eher subtil. Abdul, der Schwächere, dagegen war ein gefürchteter Schulhof-Schläger. Er atmete schwer, aber er kloppte sich. Man sah ihn oft mit hochrotem Kopf durch den Sandkasten rennen, irgendjemand hatte ihn gereizt und nun war er auf der Jagd. Ahmed dagegen prügelte sich nur, wenn es um Abdul ging. Dann aber richtig. Weil Ahmed und Abdul ein explosives Duo bildeten, das schnell für Ärger sorgen konnte, war Abdul, der ein Jahr älter war als Ahmed, nicht in unsere Klasse gekommen, sondern in die von Herrn Fritz, dem Schuhwerfer, als er nach der dritten Klasse sitzengeblieben war. So kam es nur in den Pausen oder in den ersten Jahren im gemeinsamen Sportunterricht zur Eskalation. Oder auf den Klassenfahrten, die wir gemeinsam mit der Klasse von Herrn Fritz unternahmen. Einmal fuhren wir in den Harz. Auf einem Ascheplatz kam es zum Fußballspiel gegen die Fritz-Klasse und nach einem leichten Rempler von Max lag Abdul im Staub und röchelte. Abdul hatte einen Asthmaanfall. Sein Kopf wurde so rot, als würde er gleich platzen. Herr Fritz hielt Abdul verzweifelt das Asthmaspray an den Mund. Und während wir uns alle um den rotköpfigen Abdul sammelten, stand Ahmed an der Mittellinie und auch sein Kopf schwoll an. Ahmed hatte einen Wutanfall. Er stürmte auf Max, seinen Mitspieler, zu, und schrie: »Du hast meinen Bruder umgebracht!« Dann rollte ein Knäuel aus Ahmed und Max über den Staubplatz. Herr Fritz hielt die Rettung von Abduls Leben für dringender als die Rettung von Max und ließ die beiden gewähren. Abdul ging es bald schon besser. Max hatte nur ein paar Schrammen. Aber Ahmed zitterte noch beim Abendbrot. »Wenn es ihm schlecht geht, geht es mir auch schlecht«, sagte er, »ich muss ihn beschützen.« Ahmed war gerne dramatisch, er bekam in solchen Momenten so einen verbissenen Gesichtsausdruck wie Sylvester Stallone als »Rambo«. Seine Lieblingsfilmfigur aus Filmen, die ich nicht sehen durfte.
Zwanzig Jahre später klingele ich bei Abdul. Aber niemand reagiert. Ahmed hat offenbar kein Interesse daran, mich zu sehen. Und ich verfolge ihn bis vor seine Haustür. Vielleicht hat es einen Grund, dass wir uns so viele Jahre nicht gesehen haben. Vielleicht ist es für uns beide besser. Vielleicht ist es einfach zu spät.
»Du findest Ahmed nicht«, fragt Murat, den ich endlich von seiner Arbeit am Flughafen abholen darf, »du solltest lieber froh sei, dass Ahmed dich nicht gefunden hat. Ich war froh, ihn nach der Grundschule nicht mehr zu treffen. Ahmed, dieser çılgın!«
»Dieser was?«
»Dieser Verrückte! Dieser verrückter Türke, lan!«
»Was hat er denn gemacht?«
»Ich habe ihn manchmal auf dem Sportplatz getroffen«, sagt Murat, »und er ist nicht normal. Er redete viel. Er lügt viel. Man kann ihm nicht trauen!«
Eine Maschine der türkischen Fluglinie »Pegasus« donnert über unsere Köpfe, Murat schaut ihr hinterher und sagt: »Ich brauche Urlaub, ey. Ich war schon viel zu lange nicht mehr in der Türkei.« Er arbeitet als Gepäckabfertiger am Flughafen Schönefeld, holt Koffer und Taschen aus dem Bauch der Flugzeuge, wuchtet sie auf einen Wagen und dann auf das Laufband. Dann wuchtet er auf dem Rückweg die Koffer und Taschen auf den Wagen und in
Weitere Kostenlose Bücher