Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit
ihrer Familie erzählt, kann man meinen, sie hätte gar kein eigenes. Es geht nie um sie. Immer um die anderen. Wenn ihr Bruder wieder angekommen und zur Ruhe gekommen ist, sagt Elin, will sie eigene Kinder. »Aus mir wird nichts Besonderes mehr«, sagt sie, »nur hier am Flughafen vielleicht. Ich will anderen mehr schenken, als ich geschenkt bekommen habe.« Einen Mann hat sie schon. Ein Türke, er arbeitete im türkischen Imbiss unten im Haus ihrer Eltern. Sie sahen sich jeden Tag. Dann gingen sie spazieren. Er fragte, ob sie ihn liebe, sie sagte: ja, denn irgendwas war da. Er fragte viel. Er interessierte sich für sie. Und er brauchte keine Hilfe. Am Anfang nicht. Doch seine Aufenthaltsgenehmigung war nur befristet, er musste zurück in die kleine Stadt im Norden der Türkei. Ein halbes Jahr verging. Elin vermisste ihn. Ihr Vater sprach mit seinem Vater. Im Sommer heirateten sie, die ganze Familie aus Berlin flog mit, der Bruder schickte eine Karte. Geheiratet wurde auf dem Hof der Familie des Mannes, Elin fand, es war ein merkwürdiges Fest. Die Männer standen auf der einen, die Frauen auf der anderen Seite, es war kein Fest, wie sie es in Berlin gefeiert hätte, aber so musste das sein. Ihre Schärpe war fast zwei Meter lang, es war ein schönes Kleid. Sie musste es dortlassen, seine Schwester wird es bald tragen. Nach der Hochzeit konnte der Mann wieder nach Deutschland. Doch ihm gefällt es nicht hier. Er hat wenig Arbeit und er spricht wenig Deutsch. »Er muss mehr machen«, sagt Elin, »aber er will am liebsten mit mir zurück in die Türkei.« Aber so läuft das nicht. Elin kennt niemanden in der Türkei und seine Schwester ist eine anstrengende Frau. Was soll sie dort? Sie will ihre Kinder hier großziehen, zuhause. Bis das erste der drei Kinder, die sie haben will, geboren wird, soll der Mann Deutsch sprechen. »Es soll doch mit meinen Kindern nicht wieder von vorne losgehen«, sagt Elin, »natürlich müssen die zuerst Deutsch sprechen.« Der Mann sieht das anders. Aber sie wird ihm das alles erklären, sie hat es im Griff. Sie hat einen neuen Fall, um den sie sich kümmern muss.
Über uns donnert eine Maschine der türkischen Fluglinie »Sun Express«. Elin schaut ihr nach. »Vielleicht«, sagt sie, »war es ein Fehler, dass er hierhergezogen ist, es ist schwer für ihn. Und in der Türkei ist es schwer für mich.« Elin ist eine große, starke Frau. Sie würde es nie sagen, aber sie weiß es: Sie hat sich geopfert. Für die Geschwister, die nun Abitur haben. Für die Eltern, die arbeiten konnten. Für den Mann, der hier leben kann, obwohl er es nicht will. »Manchmal ist es Pech«, sagt sie, »die Erstgeborene zu sein.«
»Es ist lustig«, sagt Elin, »dass ich hier am Flughafen arbeite, wo jeden Tag die türkischen Großfamilien in die Heimat fliegen. Sie reden mich immer gleich auf Türkisch an, aber ich antworte auf Deutsch. Sie sagen mir immer: Wir sind so froh, in die Türkei zu fliegen, würden Sie auch gerne mitkommen? Ich sage dann: Ich will hierbleiben.«
Murat und Elin arbeiten im Transitbereich. An einem Ort zwischen zwei Ländern, zwischen zwei Heimaten. Für Elin ist der Flughafen ein Ort, an dem sie bleiben will, am Rande eines Landes, in dem sie heimisch sein will. Für Murat ist der Flughafen ein Ort, von dem aus er wegfliegen will, am Rande eines Landes, von dem er nichts mehr erwartet.
Murat ist hier so nah an der Türkei, wie es ihm möglich ist. Elin ist hier so weit weg von der Türkei, wie es ihr möglich ist.
6.
Cems Odyssee
Cem ist der Junge, von dem Frau Schach noch immer träumt. Cem brachte es fertig, die erste Klasse nicht zu bestehen. Auf unserem ersten Klassenfoto sitzt er ganz vorne in der Mitte. Er ist größer als wir anderen. Er stützt seine Hände auf die weit auseinandergestreckten Beine. Cem war ein Kind, das sich bewegen musste. Frau Schach sagt, sie hätte Cem nicht erreichen können. Er habe nicht zugehört, er habe nichts gesagt, er habe nicht am Unterricht teilgenommen, er habe nur darauf gewartet, etwas kaputt oder andere Kinder lächerlich zu machen. »Cem war der Schüler, vor dem wir im Studium gewarnt wurden«, sagt Frau Schach, »es wäre ein Full-Time-Job gewesen, ihn alleine zu betreuen. Es machte damals gar keinen Sinn, ihn in die Schule zu schicken. Er brauchte einen Therapeuten. Die Eltern kamen einmal zu einem Gespräch. Der Vater fragte mich, ob ich seinen Sohn beleidigen wolle. Die Mutter wirkte apathisch. Ich wüsste gerne, wie es Cem
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