Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit
Koffer, die sie auf die weite Reise schickt, vom Gepäckband wuchtet. Auch Elin hat viele Jobs gemacht, bis sie am Flughafen begann. Jetzt ist sie bald Teamleiterin. »Ich habe nur gearbeitet seit der Schulzeit«, sagt Elin, »mir blieb nichts anderes übrig.« Elin machte ihren Realschulabschluss und wenn sie davon erzählt, merkt man, dass ihr das nicht genügt. »Ich hätte aufs Gymnasium gehen können«, sagt Elin, »wenn mir jemand geholfen hätte.« Aber die Eltern konnten nicht helfen, wie so oft, sie sprachen nicht die Sprache der Lehrer. Und sie arbeiteten, manchmal bis spät in die Nacht. Der Vater schweißte, die Mutter, wie könnte es anders sein, putzte. Elin war für die Geschwister da. Die kleine Schwester studiert heute Jura. Elin war auf jedem Elternabend der Klassen, in die die kleine Schwester ging. Sie übte mit ihr Vokabeln und Rechnen. Sie organisierte ihr Nachhilfelehrer und mit der Zeit verstand Elin selbst viele der Aufgaben, die sie in ihrer eigenen Schulzeit nie lösen konnte. Mit dem Bruder war es genauso. Er war auf der Blücher-Grundschule, wo alle drei zur Schule gingen, der Klassenbeste. Er kam auf das Gymnasium, auf das auch ich ging. Er hatte in der zehnten Klasse noch einen Einserschnitt. Wir sitzen auf der Bank neben dem Flughafenparkhaus, Rollkoffer rattern an uns vorbei und Elin beginnt zu weinen. »Dann ist alles kaputt gegangen!« Vor drei Jahren war das. Elin wohnte noch zuhause. Die ganze Familie war beunruhigt an diesem Abend, weil der Bruder nicht zum Abendessen gekommen war. Er hatte gesagt, er sei mit den beiden Kumpels unterwegs, von denen der Vater nie etwas hielt, weil sie nicht aufs Gymnasium gekommen waren und er immer schon fürchtete, sie würden seinen Sohn davon überzeugen, die Straße sei spannender als die Schule. Als alle zu Bett gehen wollten, schlich der Bruder zur Tür hinein. Willst du was essen, fragte die Mutter, es ist noch was da, aber der Bruder, bleich und mit gesenktem Blick, schüttelte nur seinen Kopf. Lass ihn, sagte der Vater, lass ihn.
Gegen vier Uhr nachts gab es zwei dumpfe Schläge, dann schrie einer: »Auf den Boden! Polizei!« Zehn vermummte Männer trampelten durch die Vier-Zimmer-Wohnung. Der Vater wurde auf den Boden gedrückt, die Hände hinter dem Rücken, die Mutter musste an der Wand stehen, die Beine gespreizt. Die Schwester schrie. Elin sah zu wie gelähmt, sie saß auf ihrem Bett und wusste: Er hat etwas Schlimmes getan. Der Bruder hob gleich seine Hände, er wusste, dass sie ihn suchen. Er wusste, dass alles vorbei war.
Kurz nach Sonnenuntergang war er mit den beiden Kumpels aus dem U-Bahnhof Kottbusser Tor gekommen, einer der vielen Junkies stand vor ihnen. Er fragte nach einer Zigarette. Sie hatten keine. Der Junkie, erzählte der Bruder, pöbelte, er fasste den Bruder an, schubste ihn. Am Ende dieser Rangelei, von der er fast nichts mehr weiß, hatte er das Butterfly-Messer seines Kumpels in der Hand, die Klinge steckte in der rechten Seite des Junkies, knapp oberhalb der Leber. Der Mann verblutete auf dem Weg ins Krankenhaus. »Er hat nie etwas gemacht«, sagt Elin, »es waren seine Freunde, die ihn dazu gebracht haben, es war ein Unfall!« Der Bruder war ein Mörder wider Willen. Aber er war ein Mörder. Der Vater hatte am nächsten Morgen graue Haare, er war über Nacht ergraut, nach diesem Schock, nach diesem verletzten Stolz über den Sohn, der es gegen alle Vorzeichen schon zu etwas gebracht hatte, der nie auf der Straße Unsinn machte. Die Mutter redet seit dieser Nacht noch weniger als zuvor.
Das Jugendgericht fällte ein mildes Urteil. Totschlag. Der Bruder wird noch in diesem Jahr aus der Haft entlassen. Dann ist es endlich vorbei mit den quälenden Besuchen, wenn der Bruder immerzu sagt, es tue ihm leid und Elin nur sagt, es sei schon okay. Nichts ist okay, der Erfolg des Bruders war auch ihr Erfolg. Sie hatte ihn angetrieben, sie hatte ihn zuhause gehalten. Seine Schande war auch ihre, sagt Elin. Der Bruder hat im Gefängnis weitergelernt. Er weiß, wie viel er gutzumachen hat. Ein Mensch ist gestorben. Und eine Familie auch. Wenn er wieder in Freiheit ist, kann der Bruder nächstes Jahr sein Abitur machen, er hat schon in der Haft Klausuren geschrieben. Er wird ein gutes Abitur machen. Die Haare des Vaters werden nie wieder schwarz, aber vielleicht, sagt Elin, geht es trotzdem weiter. Der Bruder wird studieren. Er wird nie wieder jemanden umbringen. Er wird damit leben müssen. Sie auch.
Wenn Elin vom Leben
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