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Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit

Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit

Titel: Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Bauer
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den Bauch der Flugzeuge. Jeden Tag. »Der Job ist okay«, sagt Murat, »es ist ein Job.« Es reicht, um sein iPhone zu bezahlen, mit dem er sein Leben dokumentiert, das ihn langweilt. Hier draußen am Flughafen-Schönefeld arbeitet niemand, der sich mit seiner Arbeit verwirklichen will. Die Piloten vielleicht, aber die sieht Murat nie. Er hat schon viele Jobs gemacht nach dem Realschulabschluss, den er nicht geschafft hat. Jobs, von denen ihm nicht viel mehr geblieben ist als monotone Abläufe, die viel zu lange in seinem Kopf gespeichert bleiben. Kisten raus aus dem LKW, Milchtüten rein in die Supermarktregale. Absperrgitter raus aus dem Transporter, Absperrgitter rauf auf den Bürgersteig. Jetzt eben die Koffer, es ist ein sicherer Job, nur die Löhne sind nicht mehr sicher. Sie haben Murat gleich eingestellt vor zwei Jahren, es dauerte nur lange, bis seine Sicherheitsüberprüfung abgeschlossen war, die jeder überstehen muss, der an sensiblen Orten wie einem Flughafen arbeiten möchte. Der Personalchef riet Murat, unter »Religionszugehörigkeit« »keine« zu schreiben, es käme nicht gut, hier an Allah zu glauben. Die Religion ist Murat egal, »Arbeit ist meine Religion«, sagt er. Arbeit war schon immer die Religion seiner Familie, und am Ende des Lebens wartet nicht die Erlösung, sondern hoffentlich ein Bankkonto, das so voll ist, dass die Nachfahren ein besseres Leben führen können. Der Großvater bewirtschaftete ein Feld nahe Izmir und weil er das Feld verkaufen musste, als er krank wurde, zogen Murats Eltern, frisch verheiratet, nach Berlin. Um zu arbeiten. Murats Vater stand am Fließband eines Armaturenwerks. Wasserhahn vom Band nehmen, prüfen, aufs Band zurücklegen. Die Mutter ging putzen. Den Eimer mit Wasser füllen, Büro wischen, den Eimer mit Wasser füllen, das nächste Büro wischen. Klar, wie alle wollten sie eines Tages zurück in die Heimat. Wie die meisten sind sie noch da. Und Murat wuchs auf mit dem Gefühl, hier nicht bleiben zu wollen, und der Gewissheit, hier nicht weg zu können. Auch er sagt: »Ich bin Kreuzberger, das ist meine Nationalität.« Auch er wohnt noch zuhause, weil er sonst nicht mehr in Kreuzberg leben könnte. Der kleine Bruder ist bereits ausgezogen, er arbeitet als Postbote. Der kleine Bruder hat eine Frau und einen Sohn. Murat war schon in der Grundschule nicht der Schnellste. Er sagt, es sei besser geworden, als Herr Seibel ihm diese dicke Brille verschreiben ließ. Davor hätte immer alles gewackelt, sagt Murat, und alle zwei Minuten ging ein Zucken über sein Gesicht, wenn er aufgeregt war. Wir hatten uns daran gewöhnt, aber irgendeiner lachte doch immer, wenn Murat im Unterricht etwas sagen sollte und dann plötzlich sein ganzes Gesicht zuckte. Herr Seibel kam spät auf die Idee, Murat, dem Einzigen von uns, der wohl dringend eine Brille brauchte, zu seinem Schwager zu schicken. Wir erlebten Murat nicht mehr ohne das Zucken. Wir behielten ihn als den zuckenden Murat in Erinnerung.
    Murat ist etwas dick geworden, kahl auf dem Kopf. Es wirkt, als würde er sich freuen, mich zu sehen, auch wenn er zunächst skeptisch war. Wir reden lange, es ist ein gutes Gespräch. Auch wenn jeder von uns von Dingen und Sorgen berichtet, die dem anderen unbekannt sind. Murat berlinert, wie ich nie berlinern könnte. »Und trotzdem«, sagt er, »sagen die Deutschen, ich sei ein Fremder. Ey, hallo! Die ganzen Deutschen hier sind Fremde, die sind doch Zugezogenen, deutsche Migranten!« Die Straße, in der Murat am Rande Neuköllns wohnt, war viele Jahrzehnte eine graue Straße, in die man nicht ging, wenn man nicht musste. Es ist die Straße, in der ich mit einem Bushammer überfallen wurde und das noch heute erzähle. Heute ist diese Straße eine aufregende Kneipenstraße, in der sich die Touristen mit den Neu-Berlinern mischen und sich mit Gin Tonic verbrüdern, Touristen und Neu-Berliner aus »Westdeutschland«, wie es Murat, Kind einer geteilten Stadt, nennt. Einige dieser Neu-Berliner sind meine Freunde. Sie sagen oft, es sei doch ein schönes Happy End, dass sie, die Zugezogenen, heute ihren Kaffee im Türkenviertel tränken, denn die Türken waren ja auch mal Zugezogene. Aber sie trinken ihren Kaffee nicht mit den Türken, sondern neben den Türken. Türken sieht man in den Kneipen nicht. Deutsche sieht man nicht in den türkischen Vereinsheimen, in denen die Männer, alt und jung, unter Neonlicht Backgammon spielen und Çay aus winzigen Gläsern trinken. Türken und

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