Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit
mal!« »Na gut«, sagt Sami, »ich war damals fast ein Jahr lang in Afghanistan. Ich bin jetzt erst dabei, mein Abitur nachzuholen. Ich bin verheiratet und habe zwei Kinder. Und jetzt? Weißt du jetzt, was geschehen ist?«
Was geschehen ist, lässt sich nach zwei Stunden auf dem durchnässten Sofa und vielen selbst gedrehten Zigaretten so zusammenfassen: Samis Vater besaß noch Ländereien in Afghanistan, Erbgüter in der Provinz Ghazni, wo es steinig, karg und heiß ist. Die Lage dort entspannte sich nach dem Einzug der internationalen Truppen, wenn man in Afghanistan überhaupt von Entspannung sprechen kann. Sami war in seinem Leben nie im Land seines Vaters gewesen, das selbst dem Vater fremd geworden war. Aber nun forderte ihn sein Vater auf, nach Kabul zu fliegen und die 150 Kilometer mit einem Jeep zu fahren und sich um die Ländereien zu kümmern. Es war eine komplizierte Familienangelegenheit, es ging um Versprechen und Verantwortungen und Geld. Sami, kurz vor der nächsten Deutsch-Klausur, noch ein bisschen auf den Drogen vom Wochenende zuvor und frisch verliebt in das nächste Top-Mädchen, fragte den Vater, ob das sein Ernst sei. »Hast du ihn gefragt, ob er verrückt ist?«, frage ich. »Das«, sagt Sami, »würde ich meinen Vater nie fragen. Bist du verrückt?«
Sami ging diplomatischer vor, aber er machte dem Vater deutlich, dass er sich nur schwer vorstellen könne, den Rest seines Lebens im Schatten der Band-e-Sultan-Talsperre zu verbringen. Und der Vater hatte eine Alternative zu bieten: Sami müsse nur einige Monate in Afghanistan bleiben, dort eine Frau heiraten, die er nicht kennt – und könne dann mit ihr zurück nach Berlin. Das würde alle Familienangelegenheiten klären. Also teilte Sami seiner Freundin mit, dass nun leider Schluss sei, und reiste in ein Land, in dem er die Menschen zwar verstand, aber auch fürchtete. Die Hochzeit mit dieser Frau, die er das erste Mal sah, kurz bevor er schwor, dass er ihr für immer treu sein würde, wurde ein großes Fest. Seine Frau und er waren wohl die Einzigen, denen nicht nach Feiern zumute war. Seit sieben Jahren leben sie in Berlin. Die Frau spricht kaum Deutsch, der Sohn schon, er geht in einen Kindergarten, die Kleine ist erst ein halbes Jahr alt.
»So ist das«, sagt Sami, der darauf wartet, dass ein Kerl namens Igor den Weg zu unserem Sofa findet, weil dieser Igor wohl noch was zu Rauchen hat. »Na los«, sagt Sami, »jetzt kannst du über mich herziehen!« »Warum sollte ich?«, frage ich, »weil deine Frau zuhause sitzt und du feiern gehst?« »Nein«, sagt Sami, »weil diese Geschichte für meine deutschen Freunde völlig wahnsinnig klingt. Ich, der alte Lebemann, werde zwangsverheiratet und wehre mich nicht mal dagegen. Das verstehen die nicht. Aber das könnt ihr auch nicht verstehen. Ich war einer von euch …« Ich unterbreche ihn: »Aber ein bisschen anders als wir…« »Ich habe das Leben hier genossen und hatte mir vorgestellt, bald zu studieren und eine Frau zu haben, die auch studiert. Aber es gibt eben auch einen anderen Teil in meinem Leben und dieser Teil heißt Familie und da gelten andere Regeln. Und weißt du was? Ich halte mich gerne daran. Ich bin stolz darauf.«
Sami hat seine Geschichte schon oft genug erzählt, um zu wissen, wie die Leute darauf reagieren. Er war immer der Unverstandene, Ablehnung hat ihn immer stark gemacht. Aber auch Sami weiß, dass er einen Widerspruch lebt. Er weiß das in jedem Moment. Und erst recht nachts um halb fünf im exzessivsten Club der Stadt. Früher oder später muss er nach Hause zu seiner schweigsamen Frau. Letztes Jahr hat Sami versucht, diesen Widerspruch zu lösen. Er verpflichtete sich bei der Bundeswehr. Sein Gedanke: Die deutschen Truppen in Afghanistan sind auf das Verständnis der Bevölkerung angewiesen und wer könnte besser darum werben als ein Mann, der aussieht wie ein Afghane und spricht wie ein Deutscher. Ein halbes Jahr war Sami in einer Kaserne am Niederrhein stationiert. Aber es funktionierte nicht. Das Heimweh. Das Fernweh. Das Feierweh. Sami hielt nur ein halbes Jahr durch.
»Ich mag mein Leben«, sagt Sami, kurz bevor er in der Nacht, die gleich zum Tag wird, verschwindet, »ich liebe meine Frau, aber auf einen andere Art, das verstehst du nicht.«
Ich hoffe, dass er es versteht.
8.
Der Notenvirtuose
Als ich seine Stimme durch die Sprechanlage höre, erstarre ich. »Sontheimer« schallt es aus dem Lautsprecher. »Hier ist Patrick«, sage ich mit zittriger
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