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Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit

Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit

Titel: Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Bauer
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Haus am See kaufen, keine Ahnung. Aber ich kannte keine Leute, die aufs Gymnasium gegangen sind. Ich kannte nur Leute, die die Schule geschmissen haben. Habe ich auch gemacht. Ich habe viel Party gemacht. Habe mir von einem Jugoslawen schöne Augen machen lassen. Mein Vater wollte von mir nichts mehr wissen, von seinem Enkelsohn auch nicht mehr.«
    Aylin zeigt in das Treppenhaus.
    »Wenn mir jemand gesagt hätte, dass Freiheit so aussieht, hätte ich mich lieber von meinem Vater einsperren lassen.«
    Aylin sagt, sie habe noch zu tun. Sie weiß bestimmt, dass ich weiß, dass sie nichts zu tun hat.
    »Patrick, ich habe keine Wohnung, in die man gerne Besuch reinlässt. Ich schlage vor, du rufst mich einfach an. Ich gehe ran, wenn mein Leben wieder ein bisschen normal ist.«
    »Wann meinst du, ist es so weit?«
    »In ein paar Jahren vielleicht.«
    Einige Wochen später stehe ich in einem Treppenhaus, dessen runde Fenster einst futuristisch gewesen sein müssen und das ebenso dunkel und deprimierend ist wie das vor Aylins Haustür. Dieses Treppenhaus liegt in einem Wohnmonstrum am Rand von München, hinter dem Stadtring. Die Adresse ist die letzte Spur, die es von Dina gibt. Dina, deren Familie aus dem ehemaligen Jugoslawien geflohen war. Deren Großmutter nicht verstand, warum die Enkelin überhaupt eine Schule besuchen sollte. Dina, die einmal monatelang im Krankenhaus war. Die wir dort nicht besuchten. Dina, die auf einem Klassenfoto ein viel zu großes T-Shirt der Band »Bad Religion« trug. Damals war mir noch nicht klar, dass Dina offenbar einen sehr guten Musikgeschmack hatte – oder eine große Schwester mit einem sehr guten Musikgeschmack. Dina war eine, die niemandem weiter auffiel. In das Abschiedsalbum, das wir Frau Schach schenkten, schrieb sie: »Bitte vergiss mich nicht, Schachi!«
    Aus dem Melderegister geht hervor, dass Dina einen neuen Nachnamen trägt und vor drei Jahren an den Rand von München gezogen ist, siebter Stock, dritte Tür rechts. Aber auf den unzähligen Klingelschildern des großen Hauses taucht der Name nicht auf. Die Nachbarn fragen: Ist die Frau, die sie suchen, dick und still? Ich sage, dass ich das nur vermuten kann, aber dass sie vor zwanzig Jahren dick und still war. Die Nachbarn sagen: Die Frau mit diesem Nachnamen ging selten aus dem Haus, nur den Mann mit diesem Nachnamen sah man gelegentlich. Vor ein paar Monaten zogen sie aus. Wohin, das weiß niemand. »Sie ist mir nicht aufgefallen«, sagt eine Nachbarin, »wenn sie nicht gefragt hätten, dann hätte ich die Frau vergessen.«
    Von Tarek, der mit den Eltern aus dem Libanon kam, und Anupama, die in Sri Lanka geboren wurde, gibt es im Melderegister keine Spuren mehr. »Wenn ich mir die Namen und die Herkunftsländer ansehe«, sagt der Mann im Amt, »kann das nur eines heißen: Diese Personen halten sich nicht mehr in der Bundesrepublik Deutschland auf. Oder sie sind untergetaucht.«
    Über Tarek finde ich alte Zeitungsausschnitte. Er boxte für einen Berliner Boxverein, Oberliga Nord/Ost, 69 Kilo. Im Verein erinnert man sich an Tarek, den »schmächtigen Araber«. Der Trainer fragt: »Ist das der, der beim Überfall dabei war?« Bei welchem Überfall? »Na, bei diesem bewaffneten Überfall auf das Pokerturnier am Potsdamer Platz! Wo die 200 000 Euro geklaut haben! Ach, nee, ich glaube, der hieß Ibrahim. Tarek war ein feiner Kerl. Gibt nicht viele Araber, die so sind. Aber für einen Boxer ist das schlecht. War zu nett, der Gute. Der hatte nichts außer dem Boxen, aber wir konnten ihn nicht mehr mitschleppen.«
    Dort, wo Anupamas Familie lebte, kennt sie niemand. Das Haus unweit der Blücher-Grundschule ist eines dieser grundsanierten Häuser, auch die Mieter machen einen sanierten Eindruck. Tamilen, die einst vor dem Bürgerkrieg aus Sri Lanka geflohen waren, werden mittlerweile in vielen Fällen wieder in ihre Heimat zurückgeschickt. »Abgeschoben, Ende, Aus, Finito«, sagt der Mann im Amt, »der Flughafen Frankfurt am Main ist dann der letzte deutsche Ort, den die sehen. Die können Sie lange suchen.«
    Ohne zu wissen, wo Tarek und Anupama sind: Dina ist die einzige Schülerin mit nichtdeutschen Eltern, die aus Berlin weggezogen ist. Sibel und Aylin können nicht abgeschoben werden. Sie können nur an den Rand geschoben werden. An den Rand von Kreuzberg, an den sie sich noch klammern. Sibel und Aylin waren mutig, sie haben sich gegen ihre Väter gewehrt. Sie wussten, dass dies der schwerste mögliche Weg sein würde. Aylin

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