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Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit

Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit

Titel: Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Bauer
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ist vom Staat abhängig. Sibel von dem Vermieter, dessen Mietpreis sie akzeptieren muss, wenn sie bleiben will. Aber von ihren Vätern sind beide nicht mehr abhängig.
    Über den Vater von Sami wusste ich nicht viel. Nur, dass er aus Afghanistan stammt, vor dem Krieg mit den Sowjets geflohen war und als Anwalt arbeitete. Sami kam erst in der fünften Klasse zu uns, ging später mit mir aufs Gymnasium. Es wirkte nie so, als habe er ein Problem mit seinem Vater. Er war einer dieser coolen Außenseiter. Einer, der wenig mit den anderen zu tun hatte, aber nicht, weil die anderen nichts mit ihm zu tun haben wollten, sondern weil er nichts mit den anderen zu tun haben wollte. Samis Freunde waren älter und schlauer als wir. Sami sah älter aus als wir – und war wohl auch schlauer. Er las schon in der siebten Klasse nur Thomas Bernhard und trug schwarze Hemden, er drehte Zigaretten und musste nicht husten, wenn er sie rauchte. Sami hatte einen Bart, als wir noch Milchgesichter waren, einen wilden Bart, der über die Wangen wucherte und den er nicht stutzte, weil er Angst hatte, er könnte nicht nachwachsen. Wir nannten den Bart einen »Taliban-Bart«, Sami lächelte dann gütig. Wir hatten ja keine Ahnung.
    Einmal lief ich zufällig nach der Schule neben Sami zur U-Bahn, normalerweise lief Sami immer alleine. Wir kamen an einer Bushaltestelle vorbei. »Patrick«, fragte Sami und atmete lange aus, »würdest du genau jetzt einen Pflasterstein auf diese Bushaltestellen schmeißen, so dass das Glas zerspringt?« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. »Du würdest es nicht machen, ich weiß«, fuhr Sami fort, »aber die Frage ist: Warum würdest du es nicht tun? Was hindert dich daran? Die Konventionen, die Angst oder sogar Kant? Denn eines weiß ich: Du hättest große Lust, es zu tun. Wir alle haben große Lust, es zu tun. Wir wären gerne ungestüm und martialisch. Es bereitet den Menschen Freude, Gewalt anzuwenden. Es würde auch dir große Freude bereiten. Aber irgendetwas hindert dich daran, diese Scheibe einzuwerfen. Interessant, oder?«
    Ich wollte keine Scheibe einwerfen. Ich verabschiedete mich. Wenn ich fortan mit Sami zusammen den Schulhof verließ, lief ich in die andere Richtung, auch, wenn ich wie er zur U-Bahn musste.
    Ich schätze, ich war noch nicht bereit für Sami. Später dann, als wir uns alle erwachsen vorkamen, als es nur noch zwei Jahre bis zum Abitur waren, verstand ich mich sehr gut mit ihm. Wir saßen im Deutsch-Leistungskurs nebeneinander und verachteten Günter Grass. Außerdem wusste Sami, wo die besten Partys stattfanden und auf welche Partys die besten Mädchen gehen würden. Er hatte immer die schönsten Freundinnen, in kurzen Abständen. Und dann war er einfach weg. Mitten im Schuljahr. Die Lehrer wussten nichts, nur, dass er zu oft gefehlt hatte, um einfach wiederzukommen. Wir Schüler wussten auch nichts, denn über wichtige Dinge hatte er nur mit seinen Freunden gesprochen, und wir waren nach wie vor nicht seine Freunde.
    Auf einer wilden Party in einem Berliner Kellerclub, kurz nachdem ich Aylin und Sibel aufgesucht habe, treffe ich Sami unvermittelt wieder. Er ist dort mit entfernten Bekannten von mir, er war all die Jahre nur ein paar gemeinsame Bekannte entfernt, lebt sogar ganz in der Nähe. Er sagt, er hätte sich immer mal wieder bei mir melden wollen in den letzten Jahren. Aber ich wisse ja, wie das sei. Man kommt zu nichts mehr.
    »Wo warst du denn damals?«, frage ich Sami, die Technobässe lassen meine Stimme beben. »Patrick«, schreit Sami und ich kann es nicht hören, aber ich sehe, dass er wieder sehr lange ausatmet, »das ist eine einfache Frage, die leider kompliziert zu beantworten ist.« Wir wandern durch das Menschenmeer auf der Tanzfläche. Sami geht vor, seinen großen schwarzen Mantel hat er trotz der drückenden Nachtlebenhitze nicht ausgezogen, manchmal bleibt er stehen und betrachtet aus kleinen Augen ein Mädchen, das an der Bar sitzt oder vor den Boxen tanzt und streichelt dabei seinen Bart. Die Mädchen lächeln. Sami nicht. Dann läuft er weiter. Sami wirkt noch heute sehr verwegen.
    Wir setzen uns auf ein durchnässtes Sofa vor dem Eingang zu den Toiletten. »Was war deine Frage?«, will Sami wissen. »Wo du all die Jahre gesteckt hast«, sage ich. Sami schnalzt mit seiner Zunge. »Mein Lieber«, sagt er, »manchmal muss ein Mann Dinge tun, die nur schwer zu verstehen sind.« Diese Oberstufenmystik nervt hier und heute.
    »Sami«, sage ich, »erzähl doch

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