Die Patchwork-Luege

Eltern sagten dann, was sie sonst nie sagten: »Du bist doch schon ein großes Mädchen.«
    Mehr als 65 000 Kinder nutzen jedes Jahr den Betreuungsdienst der Lufthansa, die Preise liegt zwischen 40 und 100 Euro, je nach Flugstrecke und Verbindung.
    Bahn, Lufthansa und andere Fluggesellschaften verdienen gut an der Patchworkgesellschaft. Sie sind Teil der rasant wachsenden Scheidungsverarbeitungsindustrie und hofieren die alleinreisenden Kinder wie ihre First-Class-Kundenoder Senatoren. Als die Kinderlounge 2007 neu gestaltet wurde, sagte der Bereichsleiter Hubmanagement Frankfurt, Karl-Rudolf Rupprecht: »Wir bauen die Dienstleistungen und Services für unsere Gäste hier in Frankfurt kontinuierlich aus. Das gilt selbstverständlich auch für unsere Vielflieger von morgen.«
    Nach ihrer Ankunft in Hamburg, Genf oder Brüssel beginnt für die Scheidungskinder die quality time . Der Begriff quality time soll suggerieren, dass nicht Beständigkeit zählt, sondern Erlebnisfülle. Ob sich das Bett der Mutter oder des Vaters 400 Kilometer entfernt befindet, ist demnach unwesentlich. Sobald die quality time läuft, stehen die Kinder im Mittelpunkt. Die wertvollen Stunden mit dem sonst abwesenden Elternteil verbringen sie im Freizeitpark, im Kino, im Erlebnisbad, in der Kletterhalle, beim Shoppen oder wo auch immer. Sie dürfen Eis essen, bis ihnen übel wird, und im Auto vorne sitzen, obwohl sie noch so klein sind, dass der Anschnallgurt schlecht sitzt.
    Die Scheidungspaare von heute verhalten sich lehrbuchhaft. »Sie kommen mit den besten Vorsätzen in die Kanzlei und wollen alles richtig machen im Umgang mit dem Expartner und ihren Kindern. Aber das ist unmöglich«, sagt die Anwältin. Es ist auch unmenschlich. Eine Trennung, zumal eine Scheidung, hinterlässt tiefe Verletzungen. Einer verlässt, der andere wird verlassen, vielleicht für einen neuen Mann, für eine neue Frau. Nur selten stellen zwei Menschen beim gemeinsamen Abendessen fest, dass eine Trennung das Beste für beide ist – fallsdoch, sind sie meist Jahrzehnte verheiratet und die Kinder längst aus dem Haus.
    »Man sollte Kränkungen nicht unterschätzen. Sie können eine gefährliche Dynamik entfalten, bei der selbst die Kinder wohlmeinendster Eltern unter die Räder kommen«, sagt die Anwältin. »Kinder werden beinahe immer instrumentalisiert, meist unbewusst.« Nur wenigen geschiedenen Eltern würde es gelingen, die goldene Regel zu befolgen, nicht schlecht über den anderen zu reden. »Wenn die Paare bei mir im Büro über den Ex herziehen, tun sie es auch bei ihren Kindern.« Oft geht es dabei um Geld. Selbst in einer funktionierenden Liebesbeziehung ist Geld gelegentlich ein heikler Punkt, bei einer gescheiterten Ehe mit Kindern kann er leicht zu hässlichen Streitereien und Bemerkungen führen: »Das soll dir dein Vater bezahlen.« »Deine Mutter will, dass du reitest, sie muss dir auch die Ausrüstung kaufen.« »Dein Vater soll seiner Neuen lieber weniger teure Geschenke machen und uns mehr unterstützen.«
    Unsere Kinder sind uns heilig, behaupten wir. »Kinder sind ein ›Projekt‹, nicht mehr eine selbstverständliche Tatsache im Leben ihrer Eltern, die irgendwann erwartungsgemäß eintritt (…)«, schrieb Gustav Seibt. Die Kleinen würden umsorgt und behütet wie kaum vorher. »Wehe, man beschwert sich über sie; wehe, man findet sie nicht süß. Diese Unselbstverständlichkeit von Kindern in einem radikalisierten Arbeitsleben macht sie zu einem kostbaren, eifersüchtig gehegten Gut. Auch der Erwartungsdruck wird ungeheuerlich.«
    Für unsere Kinder tun wir alles. Die Überfürsorge beginnt, bevor sie überhaupt auf der Welt sind. Wirkt sich Mozart oder Bach förderlicher auf die späteren Fähigkeiten des Kindes aus? Wie viele Stunden am Tag sollte das Ungeborene die Stimme der Mutter hören? Muss man ihm Gedichte vorlesen? Kaum hat das Kind den Kreissaal verlassen, gilt es, seine Synapsenbildung (Pisa!) im Gehirn anzuregen. »Schon in den ersten Lebensjahren wird das Fundament einer erfolgreichen Bildungsbiographie gelegt. Vom ersten Lebenstag an sind Kinder neugierige, kompetente und eigenständige Entdecker der Welt«, schreibt die Bertelsmann-Stiftung auf ihrer Homepage. In dieses »Entwicklungsfenster« stopfen ambitionierte Eltern eine Aktivität nach der anderen: Baby-Musizieren, -Yoga, -Turnen, -Schmetterlingsmassage (bindungsfördernd), Baby-Gebärdensprache, Early Englisch ( Baby’s Best Start ), Early Chinese .
    Vom