Die Patin
Überlebenskraft des Regimes ableitet, das trotz zahlloser Widersprüche vier Jahrzehnte lang Millionen Deutsche an sich fesseln konnte.
Die Überlebenskraft von Systemen, so Merkels frühe Erkenntnis, hängt nur zum Teil von ihrer Glaubwürdigkeit ab. An der Macht zu bleiben, gelingt auch Unrechtsregimen; denn das ‹Gute› spielt für den Machterhalt nur eine Nebenrolle, so Merkels Erfahrung.
Angela Merkel ist als Kanzlerin zur ‹Königin von Europa› ausgerufen worden. Sie beherrscht die Kunst, Niederlagen in Siege umzuschreiben, daher halten viele sie für unverwundbar. Aber die unsinkbare Kanzlerin hat noch nicht die Macht, ihre Unsinkbarkeit auf ihre Truppen zu übertragen. Sie spielt auf Risiko bei der Entmachtung des Parlaments, und auch beim Enteignen von Kernthemen der Wettbewerber könnte sie sich verrechnen: Sie rechnet bei allen demokratischen Parteien mit demselben brutalen Willen zur Macht, der ihr Taktieren bestimmt.
Oft wird die Machtfrau Merkel mit Maggie Thatcher verglichen. Jakob Augstein hat in wenigen Sätzen überzeugend widersprochen: «Den Ruf der neuen Eisernen Lady Europas trägt sie (…) zu Unrecht. Thatcher wollte die Revolution. Merkel will nur das Amt.» 195
«Thatcher», fährt Jakob Augstein fort, «hielt bis zum Ende an ihrer totalitären Vision fest, einer eigentümlichen Mischung aus radikalem Liberalismus und traditionellem Glauben an den starken Staat.» Merkel hingegen hat sich vom Liberalismus nicht nur ausdrücklich verabschiedet; sie hat die liberale Partei Deutschlands in eine Koalition eingeladen, die zur tödlichen Umarmung wurde. Die Kanzlerin der schwarz-gelben Koalition hat ihren Vertragspartner systematisch in eine Agonie geschickt, die tödlich sein sollte. Gäbe es nicht andere elementare Unterschiede zwischen den beiden starken Frauen Europas, dieser würde schon ausreichen. «Auch Merkel ist eine Radikale», schreibt Jakob Augstein, «aber ihre Radikalität liegt in ihrem grenzenlosen Pragmatismus. Sie ist zu buchstäblich jeder noch so atemraubenden Wende bereit und bleibt ihrem Kurs dennoch treu. Denn ihr Kompass weist immer dorthin, wo das nächste Ziel liegt. Es ist ein bisschen wie bei dem Piraten Jack Sparrow, nur dass Merkel ihre Ziele nicht selber wählt – weil sie außer dem Amtserhalt keine hat. Merkel hat die Maxime begriffen, die Brecht über IbsensTheater aufgestellt hat: ‹Es ist nicht mehr der Mensch, der handelt, sondern das Milieu. Der Mensch reagiert nur.›» 196
Treffender als Jakob Augstein hat kaum ein Journalist im Jahr 2012 das System M analysiert. «Merkel opfert die Strategie der Taktik», schreibt Augstein. Deutlicher gesagt: Sie ist gar kein strategischer Kopf; sie hat also keine Wahl. Augstein nennt es «Politik-Simulation» mit verheerenden Folgen für Europa: «Die Europäer verlieren zusehends die Geduld miteinander, die Gebenden ebenso wie die Nehmenden.» Ein wirkliches Commitment für Europa ist in Merkels Kurs nicht zu erkennen. Ob sie ein Konzept hat für das kleingesparte Europa der Zukunft, weiß niemand genau. Sie wird weiterhin an der Vormachtstellung Deutschlands arbeiten, aber das Rätsel bleibt: Tut sie das für Deutschland oder für Europa? Die ernüchternde Antwort lautet: Sie tut es für das Nahziel ‹Amtserhalt›.
Das aber ist ohne die Raubzüge im Gelände der politischen Wettbewerber nicht zu erreichen. Selbst Koalitionen mit ehemals befreundeten Parteien können überraschend eine neue Funktion erfüllen: die Vernichtung der konkurrierenden Botschaft sicherer zu machen. Jüngstes Beispiel ist die FDP, weitere könnten folgen.
Angela Merkel sieht sich insgeheim längst als parteilose Kanzlerin. Da Deutschland noch nicht so weit ist, diese überlegene Variante von Allparteien-Macht zu verstehen, kann sie nicht darüber reden. Die parteilose Kanzlerin könnte ohne Tarnkappe die Umwandlung des immer unübersichtlicher werdenden Vielparteien-Staates in eine zentral geführte Republik ansteuern. Zugleich würde die deutsche Dominanz in Europa anschaulicher und der Durchgriff auf die nationalen Haushalte der Mitgliedsländer direkter. Obendrein fände die deutsche Debatte um das ‹Königsrecht des Parlaments›, die Mitwirkung in der Finanz- und Wirtschaftspolitik, ein Ende.
«Wir zerstören unser System top - down », sagte ein erfahrener Parlamentarier im dritten Akt des ‹Präsidentendramas›. Die Nivellierung von Institutionen, die er damit meinte, hat die Kanzlerin längst begonnen. Die
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