Die Patin
zusammengehauene Koalitionsvertrag von der Regierungschefin völlig unbekümmert von Anfang an zur Nichterfüllung freigegeben wurde. Ohne Beispiel ist dieser Arbeitsvertrag zweier Parteien vor allem deshalb, weil er erstmals in der deutschen Nachkriegsgeschichte das Ziel verfolgt, eine kleine Partei, die in der gesamten Demokratiegeschichte der Deutschen als Partnerin der Volksparteien CDU/CSU und SPD eine unverwechselbare Position hatte, überflüssig zu machen.
Immerhin gehört zu diesem Plan auch die Nonchalance, die eigene Partnerwahl sofort wieder zur Disposition zu stellen; eine Merkelsche Volte, die kaum noch jemanden verwundert. Bald hatte sie freie Hand bei der Marginalisierung der liberalen Ideen, die prominent im Koalitionsvertrag standen. Steuersenkungen zum Beispiel, und die Ablehnung von Mindestlöhnen. Unbekümmert ließ die Kanzlerin ihre Regierungspartner bei beiden Themen und beim schwersten Brocken, der Gesundheitspolitik, in die falsche Richtung laufen. Das Verfahren hatte sie schon in der Großen Koalition geübt: Themenraub und Themenkillen sind im System M zwei Seiten derselben Medaille.
Erstmals also killt ein dominanter Koalitionspartner beim gemeinsamen Regieren eine ganze Partei. Merkel kann diese Pioniertat für sich reklamieren. Warum die FDP als Themenlieferant ausfiel, und weshalb sie für das System M eine reale Gefahr darstellte, habe ich an anderer Stelle erläutert. 197
Die Kanzlerin könnte Vorbild werden mit einer Werte-Kasuistik, die wir bisher nicht kannten. Ein sehr klares Beispiel für dieses Verfahren liefert ihr Umgang mit dem Fall des Verteidigungsministers Theodor zu Guttenberg. Für Angela Merkel ist sofort klar, dass es um zwei Systeme geht, die man im Fall einer Kollision nicht miteinander konfrontieren sollte. Das System Wissenschaft und dasSystem politische Führung prallen aufeinander und müssen schleunigst voneinander getrennt werden, damit der ‹Fall› gar nicht erst einer wird. Die Kanzlerin teilt also mit, dass sie im System politische Führung nicht die Kriterien der Wissenschaft anlegt: Sie habe Herrn zu Guttenberg nicht als Wissenschaftlichen Assistenten, sondern als Verteidigungsminister eingestellt, so ihr knapper Kommentar.
Wer diese Argumentation bestrickend findet, der sollte noch einmal genauer hinschauen, was zur Debatte steht und die Kollision der Systeme bewirkt hat. Der Verteidigungsminister hat in seiner wissenschaftlichen Vorgeschichte, um einen ehrenvollen Titel zu erwerben, die dafür erforderliche Leistung in großen Teilen bei anderen Autoren entwendet, ohne das geistige Eigentum der Verfasser zu kennzeichnen. Die Täuschungsabsicht, vom Autor Guttenberg bis heute bestritten, wurde einwandfrei nachgewiesen.
Die Verfehlung im System Wissenschaft wird von der Kanzlerin nun behandelt, als habe der Verteidigungsminister in einer Lehrzeit irgendwo Schrauben in einen falschen Karton wegsortiert. Darauf, so die Kanzlerin, komme es aber doch in seinem Job als Verteidigungsminister überhaupt nicht an. Sie behandelt eine justitiable Verfehlung, die in Täuschungsabsicht vollzogen wurde, wie ein wertfreies Versehen, das weder moralisch noch rechtlich von Bedeutung sei. Die akademische Jugend reagierte mit Empörung; die Kanzlerin schwieg. Diese Technik der split values , der Wertespalterei, wendet die Kanzlerin sichtlich unbekümmert an. Sie fördert damit die Erosion des Rechtsempfindens und der Werte, die hinter den Rechtsnormen stehen.
Ähnlich ‹unabhängig› vollzog sich die Urteilsbildung der Kanzlerin im Fall des konfliktbeladenen Bundespräsidenten Wulff. Verstöße gegen die Rechte und Pflichten in seinen politischen Ämtern waren bereits erwiesen; dennoch ließ die Kanzlerin durch ihren Regierungssprecher mitteilen, sie habe volles Vertrauen in die Person und die Amtsführung des Präsidenten. Wer als Bürger in diesem Staat lebt, hat sich in jenen Wochen gefragt, ob die Kanzlerin mit ihrer Vertrauenserklärung nun sein Vorbild sein solle – oder ob die Regentin in einer Sphäre mit anderen Maßstäben unterwegs sei, die für Normalverbraucher nicht gelten. Täglich lasen die Deutschen in der Zeitung, dass die Rechtsordnung durch ihren Präsidenten verletzt worden sei – und die Regierungschefin trat wie eine Arbeitgeberin auf, die sie faktisch für keinen Präsidenten seinkann – und deklarierte ihr Spezialvertrauen als die gültige Botschaft, der sich die gesamte Jurisprudenz, die Staatsanwälte und Richter zu stellen – oder
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