Die Patin
Marginalisierung der Bundesversammlung war in zwei Präsidentenwahlen2004 und 2010 Regierungsauftrag. Um den Kandidaten der Kanzlerin die Mehrheit zu sichern, wurden externe Abgesandte der Länder ausgetauscht; die CDU/CSU-Abgeordneten des Bundestags wurden unter Druck gesetzt und bedroht; 2010 traf der Bannstrahl der Regentin dann auch die Abgeordneten der FDP, mit der die Kanzlerin seit 2009 regiert.
Wer Wahlen zum höchsten Staatsamt so vorbereitet, zeigt Geringschätzung für dieses Amt. Wer freie und geheime Wahlen mit Drohungen beeinflusst, stellt sich über das Grundgesetz. Tut eine Regierung dies öfter, so setzt sie einen Gewöhnungsprozess in der Gesellschaft in Gang, der die Akzeptanz von Norm- und Regelbrüchen vorantreibt.
Wenn über die Führungsqualitäten der Kanzlerin gesprochen wird, fehlt meist dieses Prinzip ‹Umbau›, das Rechtsnormen, Verfassungswerte und Alltagstugenden betrifft: Verlässlichkeit, im Grundgesetz als Vertragstreue verankert, Wahrhaftigkeit. Die Bindungskraft von Führung entsteht aus ihren konstruktiven Botschaften, die schon Aristoteles und Thomas von Aquin formuliert haben: Klugheit, Gerechtigkeit, Mut und Maß walten zu lassen und zu schützen.
Die Bindungslosigkeit von Führung hat nicht konstruktive, sondern destruktive Wirkung. Das ‹Vorbild› einer Kanzlerin, die Wertbewusstsein situativ knackt, um ihre eigene Prioritätenliste durchzusetzen, ermutigt ihre Umgebung und schließlich die Bürger der Republik, der Chefin nachzueifern.
Die Motive der Nachahmer ähneln zwangsläufig denen ihrer Arbeitgeberin: Machterhalt. Wer im Nahfeld der Kanzlerin für den Wertverfall in der ‹Causa Guttenberg› kämpfen musste, wird längst erwägen, ob der gesamte Wertebesitz der demokratischen Gesellschaft nicht tatsächlich eher Manövriermasse werden sollte. Wer beim Energieumsturz nahe bei der politischen Revolutionsführerin arbeitete, konnte hautnah erleben, wie Zentnerlasten von gültigen Gesetzen und Verträgen auf die Müllhalden der neuen Planwirtschaft verschoben wurden. Wer mit wachen Sinnen die Metamorphose des Transferabkommens – alias Finanzpakt, alias Fiskalpakt – als einen fundamentalen Bruch des Lissabon-Vertrags der Europäer erlebte, der ist bereits zum Mitspieler eines fortschreitendenUmbaus geworden, der vor keiner Zusage, keinem Verbot und keiner Vertragsklausel mehr Halt macht.
Das ‹Präsidentendrama› in drei Akten hat in dieser Geschichte der Erosion von demokratischem Konsens durchaus symptomatischen Charakter. Es ging ja nicht um irgendeinen Winkel der politischen Arbeitsteilung, sondern um das höchste Staatsamt, das genau diese politische Willkür, deren Opfer es wurde, verhindern soll. Grundsätzlicher als sie es im Präsidentenpoker getan hat, kann die oberste Führungskraft der Bundesrepublik, die Kanzlerin, der Werteordnung unseres Landes nicht widersprechen.
Wäre sie nicht eine Schweigerin, die ihre Geheimnisse hütet, würde Angela Merkel jetzt einwerfen: ‹Aber es geht! Man kann das machen in Deutschland!›
Auch international, bei unseren Verbündeten, hat die Kanzlerin das neue Profil der Bundesrepublik in eine Proberunde geschickt: im Fall des Beistandspakts für Libyen. Der FDP-Außenminister war diesmal der Mohr, und er spielte mit.
Es war eine Stunde der Wahrheit im größeren Format und mit Signalcharakter, am 17. März 2011, als der deutsche Botschafter in der UNVollversammlung gegen alle NATO-Partner stimmte: Stimmenthaltung – also die klare Botschaft, Deutschland werde am UN-Mandat nicht teilnehmen. Noch 2003 hatte Merkel anlässlich der Abstimmung zum Irak-Krieg die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder heftig angeklagt, «die wichtigste Lektion deutscher Politik» zu missachten, dass es nie wieder einen deutschen Sonderweg geben dürfe.
2011 ist sie die Kanzlerin des deutschen Sonderwegs, und zwar in ganz anderer Gesellschaft als Schröder 2003, der Frankreich an seiner Seite hatte.
Wie immer man zu dieser Entscheidung Deutschlands, an der Seite von Russland und China die NATO zu relativieren, stehen mag: Wer das System M studiert, erkennt vor allem eins: Ein weiteres, diesmal weltpolitisch wirksames Signal der Lockerung von Bindungen. Barack Obama hat beim nachfolgenden G8-Treffen auf den deutschen Isolationismus reagiert: An die Stelle Deutschlands als bisher wichtigstem transatlantischemBündnispartner werde nun Großbritannien treten. David Cameron, der englische Premier, zeigt mit seinem Ausscheiden
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