Die Patin
lebt mit einer utilitaristischen Moral. Allein dem Überraschungseffekt verdankt sie das Zurückfallen aller Rivalen, die nicht die Flucht ergriffen, auf Verliererplätze.
Die Positionswechsel und Volten, die zu Merkels Führungsstil gehören, zeigen den Unterschied: Westlich geprägte Parteileute würden Erklärungsversuche liefern, warum eine Überzeugung aufgegeben wurde. Merkel spricht gar nicht erst von Überzeugungen; folglich hat sie keinen Erklärungsbedarf. Sie weiß, dass kommentarlose Stellungswechsel autoritär wirken, und sie schätzt diesen Effekt: Im zentralgesteuerten System, das sie anstrebt, wird der autoritäre Komplex der Abhängigen eine großeRolle spielen. Sie hat den Erfolg von angemaßter Autorität gesehen und wählt diesen einfachen Zugang, um Gefolgschaft herzustellen.
Und die andern? Haben sie diese Erfahrung vergessen, die im 20. Jahrhundert zwei Diktaturen mit Deutschen zugelassen hat?
Die Schwindsucht der Werte macht die Volksparteien CDU und CSU unsicher. «Es geht nicht um den fehlerlosen Politiker», sagt einer, der die Faust schon ziemlich lange in der Tasche hat. «Jeder von uns verstößt gegen den Wertekodex, den wir für zeitlos gültig halten. Wenn aber die Werte und Normen insgesamt, die doch auch unser Rechtssystem stützen, wie ein Baukasten mit beliebigen Spielsteinen von der politischen Führung beiseitegeschoben werden, dann entsteht eine Bindungslosigkeit, die uns alle unberechenbar macht.»
Der Merkel-Kanon überwundener Werte zeigt, dass Herrschaft ohne Berechenbarkeit und Vertrauen funktionieren kann: Wer alle unterwirft, braucht kein Vertrauen mehr, Es entsteht eine Variante von ‹Loyalität›, die nur auf der Abhängigkeit ruht. Wertleere Gefolgschaft. Wer Macht hat und nicht berechenbar ist, schafft erhöhte Aufmerksamkeit bei den Untergebenen: Sie verlassen sich nicht mehr ‹blind› auf ihre Führung, sondern sie schmiegen sich an jede unterwartete Bewegung an: Es entsteht die Schauseite einer verschworenen Gemeinschaft, obwohl es sich um Führungswillkür und Knechte in Fesseln handelt. Gerechtigkeit wird hier zum Fremdwort, Mut wird zum Karrierekiller.
Herrschaft geht ohne Werte, und die Wertleere nehmen nur die andern wahr, die sich noch erinnern.
Wer sich autoritäre Herrschaft als ein Lautsprechersystem vorstellt, lernt von der schweigenden Kanzlerin. Die deutsche Kanzlerin ist undercover autoritär; sie schweigt sich durch ihre Kanzlerschaft und arrondiert ihr innenpolitisches Revier durch Übernahmen. Keine Partei hat, seit Merkel an der Macht ist, ihren Markenkern unversehrt durch das erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts gerettet.
In der Wirtschaft würde man von unfriendly overtakes , unfreundlichen Übernahmen sprechen. In der Politik bleibt der Kreis der Akteure klein; jede feindliche Attacke von heute kann morgen in eine Koalition führen.
Der autoritäre Schweigestil erzeugt eine Fügsamkeit, die sich mit Wachsamkeit wappnet. Im Umgang der Parteien miteinander zeichnet sich seit 2005 die Erwartung ab, dass es jede Partei treffen kann, mit der Kanzlerin in der Regierung zu sitzen. Wer sich ehemals der FDP nahe fühlte, möchte daran 2012 nicht mehr erinnert werden.
Die Kanzlerin kultiviert eine Führungseigenschaft, die im Business zum Verlust der Mitgliedschaft im Club der High Potentials führen würde: Sie ist ‹schwer lesbar› – und will es sein. Obwohl sie offiziell Entscheiderin ist und das nicht verbergen müsste, macht sie, schwer lesbar agierend, den Eindruck einer Tarnkappenträgerin. Weil sie schweigt, entsteht der Eindruck, sie plane Entscheidungen, denen niemand zustimmen würde, wenn sie bekannt werden. So bewegen sich Regierungsentscheidungen unter Merkel oft im Klima des Subversiven, so als sei unzumutbar, was da durchgesetzt wird. Beim Thema Euro-Rettung schien der Kanzlerin die Tarnkappe wohl unentbehrlich.
Das System M produziert mit dem Mix aus Wertleere und autoritärem Schweigen einen neuen Mainstream , bei dem allen Mitschwimmern die Frage aus dem Blick gerät, dass ein Systemwechsel stattfindet. Viele kleine Puzzlesteine, jeder für sich als Harmlosigkeit verkauft, setzen einen neuen Trend zum Allparteien-Staat. Mindestlöhne, Schulreformen, Bündnis-Affronts und Steuererhöhungen, Rechtsbrüche und moralische Indifferenz, flankiert von Ethik-Kommissionen, die über Hochtechnologie entscheiden, Verstaatlichung der Energieindustrie, Verletzung Dutzender von Verfassungswerten: Da ist für jede Partei etwas
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