Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
ein riesiger Geröllhaufen den Fuß der Felswand säumte wie die Überreste einer mächtigen Flut, die gegen die Klippe geschwappt war. Von da an kämpfte sie sich mit etwas weniger Furcht vor, und schließlich, nach einer schieren Ewigkeit des Stolperns und der ständigen Angst, ein Pferd könnte sich eine Sehne zerren oder ein Bein brechen oder Schlimmeres, gelangten sie wohlbehalten auf sicheren Boden.
Hier unten herrschte bereits Dunkelheit; die Sonne stand tief am Himmel hinter den Bäumen, die ihre langen Schatten auf die Felswand warfen, wenngleich Maerad sehen konnte, dass oben auf dem Steilhang noch das Abendlicht gleißte. Der Wald reichte als urwüchsige Wildnis fast bis zum Fuß der Felswand. Cadvan führte sie ein Stück zwischen die Bäume, und Maerad sah sich erschöpft und mutlos um. Wie sollten sie sich durch dieses Gewirr aus Bäumen und Unterholz schlagen? An manchen Stellen glich es einer undurchdringlichen Wand aus Dornengestrüpp, das höher als ihre Köpfe aufragte, und überall verrotteten im trüben Zwielicht die umgestürzten Leichname von mit Moos und Efeu überwucherten Stämmen. Sie sah keinen Weg.
Cadvan hatte sich auf einen Baumstrunk gesetzt und atmete schwer.
»Tja, das hätten wir hinter uns gelassen«, meinte er. »Was immer es war. Aber ich denke, falls es Augen besaß, wird es bemerkt haben, wo wir das Katenmoor verließen, deshalb können wir heute Nacht nicht hier bleiben. Wir müssen zurück Richtung Süden zum Usk.«
»Wird man nicht vermuten, dass wir uns dorthin wenden?«, gab Maerad zu bedenken, verzichtete aber sogleich auf weitere Spitzfindigkeiten. Hier würden sie sich nur mit Sicherheit in den pfadlosen Wäldern verirren. Somit hatten sie eigentlich gar keine andere Wahl.
Nach einer viel zu kurzen Rast nahmen sie die mühselige Aufgabe in Angriff, sich durch das Unterholz zu schlagen. Dabei achteten sie darauf, die Felswand zu ihrer Linken in Sichtweite zu behalten, da sie fürchteten, gänzlich von der Richtung abzukommen, wenn sie sich weiter von ihr entfernten. Natürlich war dies mit Schwierigkeiten verbunden, zumal ihnen häufig schmale Rinnen mit Dornengesträuch und totem Holz den Weg versperrten, und manchmal mussten sie Umwege von mehreren hundert Schritt beschreiben, bevor sie ein Hindernis überwinden und zur anderen Seite zurückkehren konnten. Einmal stolperte Imi und schürfte sich an einem Stock oben nahe der Brust das Bein auf. Als die Abenddämmerung Einzug hielt, hatten sie den Usk immer noch nicht gefunden. Maerad war sich auf unangenehme Weise des Rascheins von Tieren im Blätterwerk über ihnen bewusst. Bisweilen erspähte sie dunkle Schemen im Geäst oder ein kleines Lampenpaar gelber Augen.
»Wir müssen bald anhalten, sonst verirren wir uns«, meinte sie und überlegte bang, welche Kreaturen die Nächte in diesem wilden Wald heimsuchen mochten. Als hätte er ihre Gedanken gehört, drehte Cadvan sich zu ihr um und sagte: »Behalt dein Schwert in Griffweite, Maerad. In diesen Gefilden gibt es seltsame Tiere.« »Weitere Goromants?«, fragte sie mit einer Unbekümmertheit, die sie nicht empfand. »Dieses Gehölz hier ist so alt wie der Wagwald; Teile dieses Waldes gibt es angeblich schon, seit die ersten Grundfeste dieses Landes gelegt wurden, lange vor den Kriegen der Elementare«, antwortete Cadvan. »Und wie im Wagwald haben auch hier Wesen aus grauer Vorzeit überlebt, als die Königreiche Lirion und Imbral den Baumbestand zurückdrängten. Während der Stille blieb dieses Gebiet unangetastet, aber es war nicht immer so breit. Seit der Großen Stille hat es sich fast bis nach Lirhan und weit nach Westen ausgedehnt. Viele Geschöpfe könnten hier leben, die selbst das Wissen des Namenlosen übersteigen: noch viel ältere Wesen als er, beseelt von einer noch urtümlicheren Bösartigkeit.«
Maerad fragte sich unwillkürlich, ob es nicht trotz der Untoten womöglich weniger gefährlich gewesen wäre, die offene Straße nach Norloch zu wählen, behielt ihre Gedanken jedoch für sich. Dennoch schien Cadvan ihren Kern zu spüren und bedachte Maerad mit einem durchdringenden Blick.
»Besser dem zu trotzen, was keinen besonderen Grund hat, uns zu bemerken, als in hellem Tageslicht Feinden die Stirn zu bieten, die darauf aus sind, uns zu ergreifen«, sagte er. »So zumindest sehe ich das. Möge es sich als vernünftig erweisen!« Ungeduldig sah er sich um. »Bald ist es völlig dunkel«, erklärte er. »In diesem Wald sind die Tage kurz! Ich
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