Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
Imbralbruch. Früher bezeichnete er die Westgrenze Imbrals. Ich weiß nicht, ob er einen neueren Namen besitzt.« Ungeduldig seufzte Maerad. Seit der vergangenen Nacht war in ihr ein Gefühl der Unrast gewachsen, das an Panik grenzte, und es lag nicht nur an der Trostlosigkeit des Katenmoors. Ihr widerstrebte jede Stunde, die sie an jenem Vormittag vergeblich damit verbrachten, den Rand des Abgrunds nach einem Pfad abzusuchen.
Zu Mittag hielten sie an, um zu essen. Cadvan sah sich wachsam um, während er den harten Zwieback kaute.
»Horch«, forderte er sie auf.
Maerad spitzte die Ohren. »Ich höre nichts«, sagte sie. »Ich auch nicht«, erwiderte Cadvan.
Erschrocken wurde Maerad klar, dass sie kein Vogelgezwitscher vernahm. Sie dachte zurück, konnte sich aber nicht erinnern, wann es aufgehört hatte.
»Das gefällt mir ganz und gar nicht«, gestand Cadvan. »Lass uns beten, dass wir vor Einbruch der Nacht einen Pfad finden. Vielleicht hat uns letztlich doch jemand entdeckt.«
»Wer? Ein Geist?«, fragte sie flapsig; doch ihr Herz fühlte anders. Zu gut erinnerte sie sich noch daran, wie das Land am Landrost rings um sie verstummt war, als die Werwesen sie verfolgten.
Danach hielten sie nicht nur Ausschau, sondern horchten auch aufmerksam, doch die Stille hielt an. Der Abhang krümmte sich mittlerweile westwärts, und Maerad fand, er wirkte weniger hoch, wenngleich immer noch mit Pferden unüberwindbar. Schließlich stieß Cadvan einen Ruf aus und deutete vorwärts. Ein Stück vor ihnen hatte es Steinschlag gegeben; ein riesiger Brocken der Felswand war in den Wald hinabgerutscht und hatte eine steinige Schneise hinterlassen, die aussah, als könnte es möglich sein, sich einen Pfad hinabzubahnen.
»Das wird zwar gefährlich«, meinte Cadvan, »aber wir könnten es schaffen, wenn wir vorsichtig sind. Allerdings werden wir die Pferde führen müssen.«
Das Wörtchen »könnten« missfiel Maerad. Zweifelnd betrachtete sie die Schneise, die immer noch viel zu steil erschien, um einen Abstieg zu ermöglichen. Dann blickte sie die Felswand entlang nach Norden. So weit sie sehen konnte, gab es keinen besseren Weg als diesen, und die Sonne senkte sich bereits gen Westen.
»Dann werden wir es wohl wagen müssen«, sagte sie. »Jedenfalls müssen wir vom Moor weg. Ob uns nun die Untoten erwischen oder wir uns den Hals brechen, es läuft auf dasselbe hinaus.«
»Die Untoten wären schlimmer«, widersprach Cadvan. »Und wer vermag zu sagen, ob es im Wald besser ist als auf dem Moor? Aber wenigstens sind wir dort schwieriger zu finden. Nun, am Rand einer Klippe zu zaudern hat es noch nie einfacher gemacht. Folg mir nicht allzu dicht, falls einer von uns beiden fällt.« Damit stieg er ab und streichelte Darsor die Nase. »Nur Mut, Tapferer«, sagte er und führte den Hengst zur Kante des Abhangs.
Darsor sah so zweifelnd aus, wie Maerad sich fühlte; nur widerwillig, mit dem Schwanz zwischen den Hinterläufen, folgte er Cadvan. Maerad seufzte, stieg ab und trat mit Imi an den Rand, wobei sie versuchte, nicht in die Tiefe zu blicken. Imi scheute und wollte den Abstieg nicht einmal beginnen. Schließlich kletterte Cadvan zurück herauf und flüsterte ihr etwas in der Hohen Sprache zu. Erst dann fügte sie sich und ließ sich mit Seitwärtsschritten und krampfhaft an den Schädel angelegten Ohren hinab; jedes Mal, wenn ihre Hufe rutschten, schnaubte sie heftig.
Qualvoll langsam bahnten sie sich Schritt für Schritt den Weg über den steilen Abhang. Jedes Mal, wenn eines der Pferde ins Rutschen geriet oder ein Stein, auf dem Maerad stand, sich unter ihrem Gewicht neigte, dachte Maerad, sie würden gleich in die Bäume tief unten hinabkrachen; vor ihrem geistigen Auge sah sie Imi mit einem zerschmetterten Bein oder Darsor mit gebrochenem Rücken hilflos zuckend am Fuß der Felswand liegen. Mit aller Willenskraft verdrängte sie die Bilder und richtete ihre Gedanken nur auf die Gegenwart: auf den Schritt, der vor ihr lag, nur diesen nächsten Schritt. Sie bemühte sich, nicht hinabzuschauen. Nach einer Weile mied sie auch den Blick nach oben - beides verursachte ihr Schwindel. Nach einer Stunde bluteten ihre Hände von kleineren Stürzen, und sie fühlte sich restlos verausgabt. Zögerlich wagte sie einen Blick nach unten und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass der Wald deutlich näher gekommen war; als noch ermutigender empfand sie, dass nicht weit unter ihnen die Neigung des Hanges erheblich flacher wurde, da
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