Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
überqueren würde, um die stolzen Reiche Lirion und Imbral mit Krieg zu überziehen. Genau wie es heute manche gibt, die behaupten, seine Rückkehr wäre unmöglich und die Tage der Stille wären lediglich der Stoff von Legenden und düsterer Geschichte.«
Maerad dachte an andere Lieder, die sie kannte. »Und wer war der Eishexer?«, erkundigte sie sich. »War das vor dem Namenlosen?«
»Maerad, ich weiß, dass ich dir ein Lehrer sein soll«, gab Cadvan müde zurück. »Aber ich verdiene doch sicher auch hin und wieder eine Pause!«
»Nein!«, widersprach Maerad streng. »Ihr habt Euch freiwillig dafür gemeldet, also erfüllt jetzt Eure Pflicht!«
Cadvan lachte matt und stocherte im Feuer. »Du bist mir eine rechte Sklaventreiberin. Aber, nun ja, es hilft, die Zeit zu vertreiben«, meinte er und sah sich um. »Ich bin müde. Trotzdem übernehme ich die erste Wache; heute Nacht ist mir nicht nach Schlafen zumute.« Kurz setzte er ab und sammelte die Gedanken. »Also, die Herrschaft des Eishexers liegt so lange zurück, dass selbst die Lieder wenig darüber zu berichten wissen, soweit es überhaupt welche gibt. Es war das Zeitalter der Elementare, als die Menschen noch neu auf dieser Welt waren. Der Eishexer, der Winterkönig, den manche Arkan nennen, kam aus dem Norden und brachte die Sturmhunde und Armeen aus Hagel und Schnee mit. Ganz Annar wurde mit Eis überdeckt, bis hinunter nach Suderain. Die Kulags waren seine Schöpfungen. Damals besaß die Welt eine andere Gestalt, wenngleich der Lir, der Fluss meines Heimatkönigreichs Lirhan fern im Norden, dem einstigen Lirion, schon damals so verlief wie heute. Die Elementare führten Krieg gegen Arkan, und ihre Kriege waren schauerlich. Männer und Frauen verkrochen sich in die Schatten der Felsen, um ihrer Wut zu entfliehen, und viele starben. Danach veränderte sich die Küstenlandschaft, und einige Länder versanken auf ewig in den Fluten. Doch das begab sich lange vor dem Namenlosen, und sogar der Eishexer war, genau wie der Namenlose, nur der Sklave einer höheren Macht.« Plötzlich erschauderte er. »Ich würde dir das lieber neben einem warmen Feuer in einem behaglichen Zimmer in einer der Schulen als hier draußen in der Wildnis erzählen, wo die Dunkelheit allzu allgegenwärtig ist. Fahren wir ein andermal fort, Maerad?«
Maerad nickte; sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Wind wie ein verirrtes Kind weinte, weshalb sich eine unerträgliche Traurigkeit in sie hinabzusenken begann. Doch als Cadvans Stimme verstummte, schien die menschenleere Nacht sich noch näher heranzudrängen. Bevor Maerad sich zum Schlafen in ihre Decke rollte, unterhielten sie sich noch eine Weile über Dinge wie das Schusterhandwerk, die Spielmannskunst und das Kochen, um die Dunkelheit im Zaum zu halten.
Am Vormittag des fünften Tages im Katenmoor erreichten sie dessen westlichen Rand. Das Gelände fiel unvermittelt steil vor ihnen ab, als hätte es jemand mit einem gewaltigen Messer gekappt. Der Fluss stürzte einen langen Wasserfall hinab und ergoss sich auf dem Weg über die Felswand in mehrere steinige Tümpel. Weit über den Horizont hinaus erstreckte sich ein mächtiger Wald, der bis an den Rand der Klippe reichte. Maerad und Cadvan spähten über die Baumkronen, die aus ihrer Höhe wie kleine Bohnensprossen in einem Gemüsegarten wirkten.
Wortlos ließ Maerad den Blick über den Wald schweifen. Sie sah keinen Weg die Felswand hinunter. Fragend schaute sie zu Cadvan.
»Was nun?«, wollte sie wissen. »Lassen wir uns Flügel wachsen und fliegen wir? Und wie gelangen wir danach durch den Wald dort unten ? «
»Ich weiß es nicht«, antwortete Cadvan ungerührt. Maerad bedachte ihn mit einem missfälligen Blick. Einen Lidschlag lang verspürte sie Lust, ihn den Abgrund hinabzustoßen. Sie hatten den ganzen weiten Weg durch das trostlose Gelände zurückgelegt, und nun erklärte ihr Cadvan, er wüsste nicht, was sie als Nächstes tun sollten? »Uns Flügel wachsen lassen kann ich nicht«, ergänzte er. »Also bleibt uns nur eine Möglichkeit. Wir reiten Richtung Norden, bis wir einen Weg hinunter finden.« Mit ausholender Geste deutete er über den Abgrund. »Das ist der Große Wald, der Cilicader in der Hohen Sprache. Wenn wir verborgen bleiben wollen, eignet sich dieser Ort dafür besser als jeder andere in ganz Annar.«
»Habt Ihr gewusst, dass uns hier ein Abgrund erwarten würde?«, fragte Maerad. »Ja«, gab Cadvan zurück. »Das ist der
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