Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
wenig Leben in sie zurückkehrte, dann tranken sie alle etwas Medhyl. Aber gegen den Wind, der durch das Wäldchen fegte und Wasserschauer von überladenen Blättern auf sie entlud, konnten sie nichts ausrichten.
»Willkommen in Edinur, dem Land der Brücke«, meinte Cadvan süßsauer. »Vielleicht bessern sich die Dinge, wenn die Sonne aus dem Bett klettert. Vielleicht auch nicht. Ich bin nicht sicher, was uns hier erwartet.«
Die Sonne ging zunächst zögerlich auf und sandte nur fahle Lichtschimmer, durch die das Land umso trostloser und kälter wirkte; dann jedoch erhob sie sich über die Wolken, und helle Strahlen fielen glitzernd auf die nasse Umgebung herab, entzündeten auf den Pfützen ein grelles Gleißen. Die Reisenden schauten sich um. Sie befanden sich in einem kleinen Buchenwald. Von der Stelle aus, wo sie sich in der Nacht zuvor zusammengekauert hatten, war die Straße noch zu erkennen. Cadvan führte sie tiefer in das Gehölz, bis er eine breite Lichtung fand, auf die ungehindert die Sonne schien. Dort zogen sie sich aus, wechselten in trockene Kleider und legten die nasse Kluft zum Trocknen in die Sonne. Hem hüllte sich in eine Decke; er besaß keine Ersatzkleidung und sah krank aus. Cadvan untersuchte ihn besorgt und verabreichte ihm noch etwas Medhyl; danach hörte das Zähneklappern des Jungen auf, und ein wenig Farbe kehrte in sein Gesicht zurück.
Sie alle waren blass vor Erschöpfung, und sie aßen ihr karges Frühstück schweigend. Maerad fühlte sich beinahe zu müde zum Kauen. Ihr ganzer Körper schmerzte, und die Kälte saß ihr so tief in den Knochen, dass sie fürchtete, sie nie wieder loszuwerden. Aber die Sonne schien fest entschlossen zu sein, ihre Abwesenheit am Tag zuvor wettzumachen, und bald wurde es nachgerade heiß. Ihre Kleider dampften im Gras, und Maerad entspannte sich, als sie die heilsame Wärme auf den Schultern spürte. Hem sah allmählich etwas besser aus, doch er hatte sich eine schlimme Erkältung zugezogen und nieste ohne Unterlass.
Cadvan bat Maerad, Wache zu halten, und verschwand mit Darsor in Richtung der Straße. Sie saß schläfrig in der Sonne und war rundum zufrieden damit, nichts zu tun und nirgendwohin zu gehen. Hem zog sich wieder an und versteckte sich dabei ob eines Anflugs von Scham hinter einem Gebüsch, dann streckte er sich unter einer Decke aus und schlief in der Sonne ein. Cadvan kehrte nach etwa einer Stunde zurück. Er und Maerad unterhielten sich leise, um Hem nicht zu wecken. Cadvan war die Straße hinab zu einem etwa fünf Meilen entfernt gelegenen Dorf geritten und hatte mit ein paar Leuten gesprochen. Fremde waren nicht willkommen und wurden mit Argwohn begrüßt, weshalb er es für unklug hielt, in einer Herberge zu übernachten. Darüber verspürte Maerad Enttäuschung, zumal sie sich schon auf ein Bett gefreut hatte. Sie sollten nachts durch Edinur reisen und Menschen nach Möglichkeit meiden. Inzwischen wollte Cadvan lieber auf der Straße bleiben, als das Wagnis weiterer Verzögerungen einzugehen. Und der Junge gestaltete die Dinge nur noch schwieriger. »Ich dachte zuerst, wir könnten ein Gehöft finden, wo man ihn mit Freuden aufnehmen würde«, gestand Cadvan. »Aber da wir jetzt wissen, dass er die Gabe besitzt, können wir ihn nicht zurücklassen. Er sollte zu einem Barden ausgebildet werden, und wir sollten ihn zu einer Schule bringen, damit er geheilt und unterrichtet wird. Obendrein weiß er jetzt auch, dass wir Barden sind, und ließen wir ihn seiner eigenen Wege ziehen, könnte die Kunde sich zu den Untoten verbreiten. Für mich besteht kein Zweifel daran, dass es sich bei denjenigen, die er als die Schwarzen Barden bezeichnet, um Untote handelt. Vorerst haben wir ihn wohl am Hals. Die nächstgelegene Schule von hier aus ist Norloch.«
»Nein, wir können ihn nicht zurücklassen«, pflichtete Maerad ihm mit einem Blick auf das schlafende Bündel bei. »Er sollte bei uns bleiben.«
»Maerad, mir ist in den Sinn gekommen, dass wir ihn finden sollten; es war etwas, das dich gerufen hat, nicht mich, und ich kann mir nicht vorstellen, dass es ein Zufall war«, sagte Cadvan. »Irgendwie ist er in unser Schicksal verflochten. Er sieht aus, als gehörte er den Pilanel an; wenn das stimmt, kam sein Volk vor langer Zeit aus dem höheren Norden, aus Zmarkan jenseits des Lir. Sie sind eine Rasse von großer Weisheit und großem Edelmut, wenngleich ihnen Steinhäuser und Reichtümer einerlei sind. Viele große Barden gingen aus
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